Interview

Kritik an EU-Agrarpolitik "Unsere Subventionen töten Menschen"

Stand: 19.09.2012 08:36 Uhr

Die EU pumpt Milliarden in die Landwirtschaft, vor allem in Großbetriebe. Dagegen demonstrierten Bauern beim "Good Food March" in Brüssel. Ein Umdenken könnte auch Kleinbauern in Afrika das Leben retten, sagt Jean Ziegler, der ehemalige UN-Berichterstatter für das Recht auf Nahrung, im tagesschau.de-Interview.

tagesschau.de: Sie sagen in Ihrem neuen Buch,"Wir lassen sie verhungern - Die Massenvernichtung in der Dritten Welt", "Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet" - warum?

Jean Ziegler: Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) hat errechnet, dass die Weltlandwirtschaft derzeit ohne Probleme zwölf Milliarden Menschen mit Grundnahrungsmitten versorgen könnte. Dennoch sind von den weltweit etwa sieben Milliarden Menschen mindestens 925 Millionen permanent schwerst unterernährt - 57.000 Menschen sterben jeden Tag an Hunger. Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. Hunger ist Mord.

"Jean Ziegler" Hunger UN-Sonderbericherstatter Nahrung
Jean Ziegler lehrte bis 2002 Soziologie an der Universität Genf und als ständiger Gastprofessor an der Sorbonne/Paris. Er war von 2000 bis 2008 der erste UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Heute ist er Vizepräsident des beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrats. Sein jüngstes Buch hat den Titel "Wir lassen sie verhungern - Die Massenvernichtung in der Dritten Welt". 

tagesschau.de: Wenn sie von Mord sprechen, wer ist dann der Mörder?

Ziegler: Es gibt natürlich nicht einen einzelnen Verantwortlichen, aber jeder von uns trägt dazu bei, dass es den Mördern leicht gemacht wird: Monopolistische Agrarkonzerne kontrollieren und manipulieren den Markt für Grundnahrungsmittel. Internationale Organisationen wie die Weltbank helfen, Kleinbauern ihr Land zu stehlen. Dieser Prozess wird dann auch noch gesteigert, weil wir in großem Stil Nahrungsmittel in den Tanks unserer Autos verbrennen.

Auch die Finanzbranche treibt mit Börsenspekulationen auf Nahrungsmittel die Preise nach oben. Und mit Abstand am verheerendsten sind natürlich die verbrecherischen Agrar- und Export-Subventionen der Industriestaaten.

"Lebensmittel aus der EU überschwemmen Afrikas Märkte"

tagesschau.de: Was meinen Sie mit verbrecherisch?

Ziegler: Diese Subventionspolitik tötet Menschen. Lebensmittel aus der EU überschwemmen Afrikas Märkte. Sie können dort fast überall Produkte aus Deutschland, Frankreich oder Griechenland kaufen, die ein Drittel billiger sind als die einheimischen. Je nach Saison kosten sie sogar nur die Hälfte von vergleichbaren lokalen Lebensmitteln.

Kein Wunder, schließlich haben im Jahr 2010 die in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) vereinigten Staaten ihre Bauern mit 349 Milliarden Dollar unterstützt. Was bedeutet das weltweit für die Kleinbauern? Sie verlieren ihre Lebensgrundlage und landen im Elend. Und wenn sie dann auf der Arbeitssuche nach Europa flüchten, versucht die EU, das mit allen Mitteln zu verhindern.

tagesschau.de: Wieso bezeichnen Sie die Welthandelsorganisation (WTO), den Internationalen Währungsfonds (IWF) und die Weltbank als die "drei apokalyptischen Reiter des Hungers"?

Ziegler: Der IWF und die WTO verhindern mit ihrer Liberalisierungs- und Privatisierungspolitik aktiv das Recht auf Nahrung und in geringerem Maß auch die Weltbank. Die meisten Entwicklungsländer sind hoffnungslos verschuldet - mit etwa 2,1 Billionen Dollar. Und sie haben auch keine Chance, aus diesem Teufelskreis auszubrechen. Ganz im Gegenteil, wenn sie ein Schuldenmoratorium oder eine Umfinanzierung wollen, dann müssen sie sich dem Diktat des IWF unterwerfen - das nennt sich dann Strukturanpassungprogramm.

"Ein Paradebeispiel für Sparzwang ist Sambia"

tagesschau.de: Was sind das für Maßnahmen?

Ziegler: Meist bedeutet das massive Kürzungen der Ausgaben im Gesundheitswesen, Bildungs- und Sozialbereich - oder aber bei Subventionen auf Grundnahrungsmittel. Ein Paradebeispiel für Sparzwang ist Sambia. Anfang der 1980er-Jahre wurde dort der Maisanbau vom Staat mit 70 Prozent subventioniert. Auch die Bauern bekamen Unterstützung. Alle wurden satt.

Dann verordnete der IWF zunächst die Verringerung und dann die Abschaffung dieser Subventionen. Zudem wurden die staatlichen Zuschüsse für den Kauf von Dünger, Saatgut und Pestiziden verboten. Schulen und Krankenhäuser, die bis dahin umsonst waren, wurden kostenpflichtig. Als Folge dieser Politik stürzte das Land ins Elend, die Kindersterblichkeit explodierte. 2010 waren 45 Prozent der Sambier permanent schwerst unterernährt.

tagesschau.de: Was hat die Finanzkrise für den Hunger auf der Welt bedeutet?

Ziegler: Die Folgen waren fatal. Während die Verursacher der Krise mit Abermilliarden Dollar und Euro gerettet wurden, hat es die Ärmsten der Armen am Härtesten getroffen. Unzählige Zulieferbetriebe gingen Pleite, es gab keine Kredite mehr. Zeitgleich wurden weltweit die Mittel für die Entwicklungshilfe gekürzt.

Das Welternährungsprogramm hatte 2009 ein Budget von sechs Milliarden Dollar, heute sind es nur noch 2,8 Milliarden - nicht einmal mehr die Hälfte. Es fehlt wichtiges Geld für Soforthilfe. Und als wäre das alles nicht genug gewesen, stürzten sich die gierigen Hedgefonds auf den Nahrungsmittelmarkt.

"Wer auf Nahrungsmittel spekuliert, hat Blut an den Händen"

tagesschau.de: Was meinen Sie damit?

Ziegler: Infolge der Finanzkrise setzten diese Finanzhaie nun auch auf die Spekulation mit Agrarrohstoffen, vor allem Grundnahrungsmittel. Nehmen sie das Beispiel Goldman Sachs: Anstelle von Derivaten mit faulen Immobilienkrediten gibt es jetzt Derivate mit Mais, Reis oder Weizen. Diese Geschäfte sind für die Hedgefonds äußerst lukrativ. Und das hat fatale Folgen. Die Preise für Grundnahrungsmittel schossen in die Höhe, und zusätzliche Millionen Menschen wurden systematisch in den Hunger getrieben.

tagesschau.de: Wie könnte das Ihrer Meinung nach eingedämmt werden?

Ziegler: Grundsätzlich ist das einfach: All die mörderischen Mechanismen, die für den Hunger verantwortlich sind, sind von Menschen gemacht - und können natürlich auch von Menschen geändert werden. Wer auf Grundnahrungsmittel spekuliert, hat Blut an den Händen. Das muss einfach verboten werden.

"Eine Tankfüllung bedeutet ein Jahr Überleben"

tagesschau.de: Eingangs haben Sie noch das Thema Pflanzenkraftstoffe angesprochen - die wurden doch jahrelang als Klimaretter gefeiert?

Ziegler: Das ist doch eine einzige große Lüge. Man muss die Gesamtbilanz betrachten. Um diese Kraftstoffe herzustellen, braucht es Arbeit, Energie und vor allem Unmengen an Wasser. Für einen Liter Bioethanol werden bis zu 4000 Liter Wasser benötigt. Für den Tank eines Mittelklassewagens mit 50 Litern müssen fast 360 Kilogramm Mais verbrannt werden.

Millionen Tonnen Nahrungsmittel auf einem Planeten zu verbrennen, auf dem täglich fast 60.000 Menschen verhungern, ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. In Sambia und Mexiko ist Mais ein Grundnahrungsmittel, von 360 Kilogramm Mais könnte dort ein Kind ein Jahr überleben. Und als wäre all das nicht genug, explodiert infolge des Booms der Agrartreibstoffe das 'Land Grabbing'.

tagesschau.de: Was bedeutet das?

Ziegler: Es ist für die multinationalen Konzerne extrem lukrativ, sich in Entwicklungsländern riesige Ackerbauflächen zu sichern und diese dann mit Monokulturen vollzupflastern. Die Kleinbauern vor Ort können in den seltensten Fällen beweisen, dass ihnen das Land gehört. Oder sie werden einfach gewaltsam vertrieben. Die großen Konzerne arbeiten mit korrupten Regierungen zusammen. Und der massenhafte Ausverkauf der Entwicklungsländer wird dann auch noch von der Weltbank, der Europäischen Investitionsbank und der Afrikanischen Entwicklungsbank finanziert. 2010 wurden in Afrika 41 Millionen Hektar Ackerfläche von ausländischen Investoren gekauft, langfristig gepachtet oder ohne Gegenleistung übernommen.

tagesschau.de: Was sind denn die Argumente der Weltbank, diese Geschäfte zu finanzieren?

Ziegler: In der Sahelzone werden in normalen Zeiten, also ohne Dürre, Krieg oder anderen Katastrophen pro Hektar 600 bis 700 Kilogramm Getreide erwirtschaftet. In Baden Württemberg werden auf derselben Fläche 10.000 Kilogramm angebaut. Das ist das Argument dafür, das Land den ausländischen Investoren zu überlassen. Aber dieser Unterschied kommt ja nicht daher, dass die Bauern in Afrika sich keine Mühe geben würden. Die Böden und klimatischen Bedingungen sind deutlich schlechter. Aber vor allem haben die Kleinbauern nicht dieselben Voraussetzungen. Sie haben kein selektiertes Saatgut, keinen Mineraldünger - geschweige denn Bewässerungsanlagen, Zugtiere oder gar Traktoren. Wir brauchen eine Totalentschuldung der armen Länder, damit diese in die lokale Landwirtschaft investieren können.

"Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie"

tagesschau.de: Die Förderung von Pflanzenkraftstoffen, Agrarsubventionen, Land Grabbing - all das sind doch politische Entscheidungen. Was kann denn der Einzelne tun, um die von Ihnen beschriebenen Probleme zu bekämpfen?

Ziegler: Politik wird doch von Menschen gemacht. Sie leben in Deutschland, in der drittstärkste Wirtschaftsmacht der Welt und der lebendigsten Demokratie Europas. Jeder sollte die Freiheiten und Rechte des Grundgesetzes nutzen. Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie. Die EU-Agrarsubventionen können morgen abgeschafft werden. Börsen sind kein rechtsfreier Raum. Die Spekulation auf Grundnahrungsmittel muss verboten werden. Die Allmacht der Agrarkonzerne kann und muss gebrochen werden. 

Das Interview führte Stefan Keilmann für tagesschau.de