Interview

Analyse zur Präsidentschaftswahl "Deutschtürken sind nationalistischer"

Stand: 11.08.2014 19:00 Uhr

Bei den Türken, die in Deutschland zur Wahl gingen, erhielt Erdogan Spitzenwerte. Aber nur wenige beteiligten sich überhaupt. Im Interview mit tagesschau.de erklärt der Journalist Baha Güngör, warum die Türken hierzulande nationalistischer denken als in der Heimat.

tagesschau.de: Erstmals durften auch die im Ausland lebenden Türken bei der Präsidentschaftswahl in der Türkei ihre Stimme abgeben. In Deutschland haben das von den 1,4 Millionen wahlberechtigten Türken nur knapp sieben Prozent getan. Warum so wenige?

Baha Güngör: Die bürokratischen Hürden waren sehr hoch: Man musste beim Landeswahlausschuss der Türkei in Ankara über das Internet einen Termin beantragen. Viele, gerade ältere Menschen, kamen mit dieser Prozedur nicht klar. Zudem konnten Türken nur in sieben Städten in Deutschland ihre Stimmen abgeben. Das heißt, jemand, der in Saarbrücken wohnt, musste dafür eigens nach Karlsruhe fahren. Ein so langer Weg, um eine Stimme abzugeben, das hat viele abgeschreckt.

Zur Person

Baha Güngör kam vor mehr als 50 Jahren nach Deutschland. 1976 wurde er als erster Türke in Deutschland in deutscher Sprache zum Journalisten ausgebildet, in einem Volontariat bei der Kölnischen Rundschau. Später ging er als Türkeikorrespondent für WAZ und dpa für 15 Jahre nach Istanbul zurück. Er ist Autor des Buches "Die Angst der Deutschen vor den Türken und ihrem Beitritt zur EU" und Träger des deutsch-türkischen Freundschaftspreises. Heute leitet er die türkische Redaktion der Deutschen Welle in Bonn.

tagesschau.de: War die Bürokratie der einzige Grund?

Güngör: Nein. Die Türken in Deutschland interessieren sich auch nicht mehr so sehr für die Politik in der Türkei. Das sieht zwar immer so aus, wenn Recep Tayyip Erdogan nach Deutschland kommt und Hallen mit 10.000 oder 20.000 Menschen füllt. Aber das sind Menschen, die von der Partei zusammengetrommelt werden. Die Fahrten an die Veranstaltungsorte mit Bussen oder Zügen werden komplett organisiert. Der Mehrheit der in Deutschland lebenden Türken ist es wichtiger, hier in Deutschland das Wahlrecht zu bekommen, trotz türkischen Passes. Aber das ist nicht in Sicht.

"Religion bietet Orientierung in der Diaspora"

tagesschau.de: Von den Türken, die in Deutschland gewählt haben, sollen laut türkischen Medien 69 Prozent für Erdogan gestimmt haben. Das sind deutlich mehr als in der Türkei. Woran liegt das?

Güngör: Die in Deutschland lebenden Türken sind nationalistischer eingestellt als in der Heimat und damit ist Erdogan für sie der passende Kandidat. In der Diaspora neigt man dazu, die Zustände im eigenen Land in rosaroten Farben zu malen. Außerdem hat Erdogan die Religion stark in den Mittelpunkt gerückt. Das ist insbesondere für die Menschen in der Diaspora ein Orientierungspunkt, damit identifizieren sie sich und es gibt ihnen Selbstwertgefühl.

tagesschau.de: Auch die Türken in Frankreich und beispielsweise den Beneluxländern haben mehrheitlich Erdogan gewählt, während in den USA und Russland mehr Menschen für seinen Konkurrenten Ekmeleddin Ihsanoglu gestimmt haben. Wie erklären Sie sich das?

Güngör: In Deutschland, Frankreich und den zentraleuropäischen Ländern leben vor allem Türken aus bildungsfernen Schichten, die einst als klassische Gastarbeiter aus ländlichen Regionen der Türkei gekommen sind. Für sie ist beispielsweise das Thema Religion ein wichtiges Trostpflaster. Es hilft ihnen über die Alltagssorgen hinweg. In die USA oder nach Russland wandern vor allem qualifizierte Arbeiter, Ingenieure oder Studenten aus. Und einen Akademiker mit guten Job in den USA sprechen Erdogans Botschaften nicht so sehr an.

"Eigentlicher Gewinner ist der Kurde Demirtas"

tagesschau.de: Wie wurde in der Türkei in den unterschiedlichen Regionen gewählt?

Güngör: In den Städten wurde anders gewählt als auf dem Land. Erdogan haben vor allem die bildungsferneren Menschen im Landesinneren gewählt, während sich in den Städten eher der Kompromisskandidat der Opposition, Ihsanoglu, durchgesetzt hat. Ihsanoglu wurde vor allem in der Küstenregion im Westen der Türkei gewählt. Dort leben hauptsächlich kemalistisch eingestellte Menschen, die zu den Eliten gehören. In den Küstenregionen wird schon immer eher antireligiös gewählt, dort gibt es eine andere kulturelle Mischung als im Binnenland. Dort ist das Leben moderner, es gibt mehr Tourismus und Austausch mit anderen Nationalitäten.

Aber der eigentliche Gewinner der Wahl ist der Kurde Selahettin Demirtas. Er hat landesweit 9,8 Prozent erzielt, ein riesiger Erfolg. Dieser Kandidat ist sehr menschlich, sehr gut argumentierend aufgetreten und hat viele mit seiner humanen Einstellung zu den Problemen des Landes überzeugt. Damit wird es wahrscheinlich, dass die kurdische Partei bei den kommenden Parlamentswahlen erstmals die Zehn-Prozent-Hürde überspringt. Daraus lässt sich künftig womöglich ein größerer Machtanspruch für die Kurden im Parlament ableiten.

tagesschau.de: Knapp 52 Prozent haben Erdogan gewählt, etwa 48 Prozent haben ihn nicht gewählt. Zeigt dieses Wahlergebnis, dass die Spaltung des Landes weiter vorangeht?

Güngör: Ja, die Spaltung hat sich verschärft. Es gibt nur für oder gegen Erdogan, es gibt keine Grauzonen mehr. Das Wahlergebnis zeigt vor allem eine Spaltung zwischen religiös und nicht-religiös. Erdogan hat das ja auch ganz bewusst vorangetrieben, weil es ihm nützt. Er hat gesagt, wer gegen mich ist, ist gegen die Religion, das treibt ihm Wähler zu.

Diese 52 Prozent, die ihn gewählt haben, sind ganz klar für ihn. Das Problem der anderen 48 Prozent ist, dass sie keineswegs mit einer Stimme sprechen. Erdogans Konkurrent Ihsanoglu wurde von 14 Parteien unterstützt. Gemessen daran sind die 38 Prozent Zustimmung für ihn ein sehr schlechtes Ergebnis.

"Erdogan wird Spaltung weiter vorantreiben"

tagesschau.de: Wird sich mit Erdogan als Staatspräsident die Spaltung weiter verschärfen? In seiner Dankesrede sagte er, er wolle der Präsident von 77 Millionen Türken sein.

Güngör: Ich glaube trotzdem, er wird die Spaltung weiter vorantreiben. Seine Töne im Wahlkampf waren derart scharf und respektlos gegenüber den anderen, dass das nicht einfach von heute auf morgen anders werden wird. Ich glaube auch nicht, dass die Opposition ihm diese Schläge unter die Gürtellinie so einfach verzeihen wird. Die Gleichschaltung der Presse und die Hasstiraden gegen Journalisten und Andersdenkende kann man auch nicht einfach vergessen. Und Erdogan kämpft noch gegen den Vorwurf der Korruption und des Amtsmissbrauchs. Er wird weiter autokratisch auftreten.

Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 11. August 2014 um 22:20 Uhr.