Russisch-amerikanische Beziehungen "Putin spielt das Great Game"
Die Beziehungen zwischen den USA und Russland haben einen Tiefpunkt erreicht. Der Historiker Biermann erklärt im Interview, wie US-Präsident Obama zur Eskalation beigetragen hat und warum die aktuelle Situation trotzdem keine Renaissance des Kalten Krieges ist.
tagesschau.de: Die Beziehungen zwischen den USA und Russland haben einen Tiefpunkt erreicht. Befinden wir uns in einem neuen Kalten Krieg?
Harald Biermann: Meiner Einschätzung nach hat die gegenwärtige Situation recht wenig mit einem neuen Kalten Krieg zu tun. Zwei konstitutive Voraussetzungen, die den Kalten Krieg im Kern ausgemacht haben, sind derzeit nicht vorhanden: Erstens war der Kalte Krieg eine weltanschauliche Auseinandersetzung. Zwei Ideologien rangen um die Köpfe und Herzen der Menschheit: kommunistische Weltbeglückung sowjetischer Provenienz versus kapitalistische Demokratie amerikanischer Prägung. Während der "American way of life" noch immer Ausstrahlungskraft besitzt, hat Russland überhaupt keine weiterführende Idee, die in der Welt irgendwelche Gefolgschaft generieren könnte. Zweitens war der Kalte Krieg geprägt durch die wechselseitige Vernichtungsandrohung mit Nuklearwaffen. An diesem Punkt sind wir noch lange nicht wieder angelangt. Allerdings können hier relativ rasch Veränderungen vorgenommen werden.
tagesschau.de: Ist eine direkte militärische Eskalation zwischen den USA und Russland jetzt denkbar?
Biermann: Wenn militärische Eskalation heißen soll, dass amerikanische auf russische Soldaten schießen oder umgekehrt, dann möchte ich dies gegenwärtig doch ausschließen. Die Eskalationspotenziale in Syrien halte ich auf der Ebene der Großmächte für sehr begrenzt.
tagesschau.de: Beide Seiten geben sich die Schuld für das Scheitern der Syrien-Verhandlungen. Wer hat Recht?
Biermann: Erst wenn Historiker die Möglichkeit haben, die einschlägigen Dokumente zu studieren, werden wir ein abgewogenes Urteil fällen können. Bereits jetzt lässt sich sagen, dass Russland unter Putin sehr von den unterschiedlichen Brennpunkten der Weltpolitik profitiert. Instabilität und Unsicherheit wirken sich positiv auf die Wahrnehmung Russlands aus - nicht nur im Ausland, sondern eben auch im Inland, wo Putin mit gewisser Berechtigung sagen kann, dass Russland in den großen Fragen der Weltpolitik wieder ein wichtiger - und zum Teil gefürchteter - Akteur ist.
"USA haben in Syrien jegliche Glaubwürdigkeit verloren"
tagesschau.de: Der Abbruch der Syrien-Gespräche stellt einen neuen Tiefpunkt im amerikanisch-russischen Verhältnis dar. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?
Biermann: Das Verhältnis zwischen beiden Staaten ist schon seit geraumer Zeit gestört. Die Phase der Duldung der westlichen Vorherrschaft selbst direkt an den Grenzen Russlands scheint vorüber zu sein. Auf russischer Seite bestehen zudem gegen die NATO gerichtete Einkreisungsängste aus sowjetischen Zeiten fort, die mit der Realität nur wenig zu tun haben, aber dennoch wirkmächtig sind. Hinzu kommt, dass die Vereinigten Staaten von Amerika unter Präsident Barack Obama eine inkonsistente Außenpolitik betrieben haben, die vor allem in Syrien jegliche Glaubwürdigkeit verloren hat. Man formuliert keine roten Linien, ohne dass es zu signifikanten Reaktionen kommt, wenn diese Linien überschritten werden.
tagesschau.de: Gibt es eine historische Analogie zu der aktuellen Situation?
Biermann: Die derzeitige Weltpolitik erinnert insgesamt weniger an die Konstellationen des Kalten Krieges, als vielmehr - vor allem von russischer Seite aus - an die Machtpolitik des 19. oder frühen 20. Jahrhunderts. Putin spielt das "Great Game", wie es Großmächte seit Jahrhunderten gespielt haben. Vor allem in Deutschland haben wir vergessen, in diesen Kategorien zu denken. Hans-Peter Schwarz hat dies einmal auf den Punkt gebracht: von der Machtversessenheit zur Machtvergessenheit.
"Obama hat schwerwiegende Fehler gemacht"
tagesschau.de: Obamas Amtszeit nähert sich dem Ende. Wie wird seine Außenpolitik in den Geschichtsbüchern bewertet werden?
Biermann: Die Präsidentschaft Obamas wird auf außenpolitischem Terrain als Phase des Rückzugs und der relativen Schwäche bewertet werden. Er hatte zwar mit den unpopulären Kriegen in Afghanistan und im Irak ein schweres Erbe anzutreten, allerdings hat er zwischenzeitlich durch einige schwerwiegende Fehler in der Lagebeurteilung kaum etwas zur Verbesserung beigetragen. Beide Staaten existieren auch heute noch nur auf Landkarten. In der Weltpolitik sind die Vereinigten Staaten derzeit nicht mehr die unumschränkte Führungsmacht. Machtvakua, die Obama hinterlassen hat, werden von anderen Akteuren gefüllt.
tagesschau.de: Welche Bedeutung hat der Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen für das Verhältnis zwischen den USA und Russland?
Biermann: Der Ausgang der Wahlen wird großen Einfluss auf die amerikanisch-russischen Beziehungen haben. Eine Präsidentin Hillary Clinton würde eine aktivere Außenpolitik als ihr Vorgänger betreiben, die Spannungen dürften zunächst weiter ansteigen. Allerdings sollte an dieser Stelle nicht unterschlagen werden, dass die faktische Machtbasis der Vereinigten Staaten unendlich breiter ist als die Russlands. Die russische Volkswirtschaft liegt darnieder - nicht wegen der Sanktionen, sondern wegen des billigen Öls und wegen der mangelhaften Innovationskraft der Unternehmen. Darüber hinaus hat Russland ein gewaltiges demographisches Problem. Ich denke, niemand weiß, wie sich unter einem Präsidenten Donald Trump das Verhältnis zu Russland entwickeln würde. Erste Indizien deuten auf eine gewisse Männerfreundschaft zwischen Putin und Trump.
Das Interview führte Jan Philipp Burgard, WDR, für tagesschau.de