Interview

Proteste gegen US-Vertretungen "Der Film wird instrumentalisiert"

Stand: 13.09.2012 16:37 Uhr

Bei den Protesten gegen "Innocence of Muslims" geht es nicht um den Film, sagt der Islamwissenschaftler Steinberg im Interview mit tagesschau.de: Verantwortlich sei vielmehr das in der arabischen Welt vorherrschende Gefühl, gegenüber dem Westen kulturell in der Defensive zu sein. Salafistische und extremistische Gruppen versuchten, dieses Gefühl für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.

tagesschau.de: Herr Steinberg, welcher emotionale Mechanismus steckt dahinter, dass aus Protesten gegen einen Film solch heftige Gewaltausbrüche werden?

Guido Steinberg: Zunächst muss man unterscheiden, dass wir in Bengasi einen terroristischen Angriff einer einzelnen Gruppe haben, und nicht, wie in den anderen Ländern, Proteste gegen einen Film.

Der Grund für die heftige emotionale Reaktion auf diesen Film liegt tiefer: Seit einigen Jahrzehnten kann man beobachten, dass Muslime in der arabischen Welt sich selbst in der Defensive sehen; sie glauben, dass vom Westen ein kulturell-religiöser Angriff auf ihre Identität ausgeht. Dieser Eindruck wurde in den letzten Jahren besonders stark genährt durch die Reaktion der Amerikaner auf die Anschläge vom 11. September 2001, durch die Kriege in Afghanistan und besonders im Irak, aber auch durch die Kampagne in Somalia und heute im Jemen. Dazu kommt immer noch die Kritik an der westlichen Unterstützung der israelischen Politik.

Insgesamt empfinden es viele Muslime so, dass sie es mit einem weitergehenden Angriff zu tun haben, der nicht nur militärische und politische Formen annimmt. Das ist wahrscheinlich der Grund, weshalb diese Proteste heute so heftig sind.

Zur Person

Guido Steinberg ist promovierter Islamwissenschaftler und Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Von 2002 bis 2005 war er Terrorismusreferent im Bundeskanzleramt. Er forscht vor allem zu den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens und hat mehrere Bücher über Al Kaida veröffentlicht.

tagesschau.de: Werden solche Proteste gegen den Westen von politischen Gruppen instrumentalisiert?

Steinberg: Natürlich gibt es eine politische Instrumentalisierung dieser Wahrnehmung vieler Muslime. In Ägypten ist das besonders deutlich: Dort haben Vertreter der "Islamischen Gruppe", einer ehemaligen militanten Gruppe, die der Gewalt abgeschworen hat, federführend an den Protesten teilgenommen, auch die salafistische Nour-Partei war dabei.

In Libyen haben wir es zwar auch mit einem Ausbruch von Volkszorn zu tun, allerdings war dort für die Gewalteskalation eine dschihadistische Gruppe verantwortlich, die seit Monaten Anschläge verübt und auch im Juni bereits das US-Konsulat angegriffen hat. Auch in Libyen geht man nicht mit der Panzerfaust zu Protesten, nicht einmal zu gewalttätigen Protesten. Das ist eines von mehreren deutlichen Indizien dafür, dass es sich hier, anders als in Ägypten oder Jemen, um einen terroristischen Anschlag handelt.

"Die meisten haben den Film nicht gesehen"

tagesschau.de: Geht es bei diesen Protesten überhaupt noch um den Film "Innocence of Muslims"?

Steinberg: Nein, es geht nicht um den Film. Die Mehrheit der Leute, die auf die Straße gehen, hat den Film nicht gesehen. Es reicht die Nachricht, dass es einen solchen Film gibt und dass er aus den USA stammt, um die Leute auf die Straße zu bringen und bei islamistischen Organisationen den Plan reifen zu lassen, diese Proteste entsprechend zu nutzen. Da geht es nicht um den konkreten Inhalt. Protestierende in Kairo haben gestern auch bestätigt, dass sie den Film nicht gesehen haben.

Das war in den vergangenen Jahren ähnlich: Die meisten Menschen, die 2006 gegen die Mohammed-Karikaturen protestierten, hatten diese Karikaturen nie gesehen.

tagesschau.de: Lässt sich denn sagen, welche Gruppe in der arabischen Welt versucht, diese oder ähnliche Proteste, zu okkupieren? Gibt es da Gemeinsamkeiten zwischen den einzelnen Ländern?

Steinberg: In der Regel sind das salafistische oder islamistische Gruppen, die versuchen, anti-westliche oder anti-amerikanische Gefühlswallungen für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Das sollte nicht davon ablenken, dass es diese Wahrnehmung westlicher Politik in der arabischen Welt tatsächlich gibt. Trotzdem ist bei solchen Gewalteskalationen eine Minderheit am Werk.

Ganz deutlich ist das in Libyen: Wegen der sehr positiven Rolle der USA bei dem Sturz des Gaddafi-Regimes ist die Bevölkerung überwiegend pro-amerikanisch. Das gilt aber auch für Ägypten. Die normalen Bürger dort wollen solche Gewaltexzesse nicht. Außerdem sind sich viele Ägypter bewusst, dass sie die amerikanischen Hilfszahlungen in Milliardenhöhe benötigen.

"Bush hat falsch gemacht, was man falsch machen konnte"

tagesschau.de: Trotzdem richten sich diese gewalttätigen Proteste immer wieder besonders gegen die USA. Woran liegt das?

Steinberg: Die USA haben nach den Anschlägen vom 11. September, besonders in den Jahren unter Präsident George W. Bush, alles falsch gemacht, was man falsch machen kann im Verhältnis zur islamischen Welt. Sie haben auf die Anschläge mit militärischen Interventionen überreagiert, sie haben im Irak einen Krieg begonnen ohne einen akzeptablen Grund. Das hat  den Anti-Amerikanismus in der gesamten islamischen Welt enorm befördert.

Deswegen sind diese Proteste auch in einem größeren Kontext zu sehen. Zum einen haben die Menschen den Eindruck, dass ein kulturell-religiöser Angriff vorliegt, und diese Wahrnehmung verbindet sich mit harten Fakten aus der Tagespolitik. Stichworte wie der Irakkrieg, Guantanamo, Abu Ghraib haben die Amerikaner, die ja ohnehin als Supermacht im Blickpunkt der gesamten Weltöffentlichkeit stehen, noch mehr in den Fokus gebracht. Die USA sind die Führungsmacht des Westens, eine antiwestliche Grundhaltung arbeitet sich deshalb vor allem an den USA ab.

tagesschau.de: Hat der Westen überhaupt eine Möglichkeit, antieskalierend aufzutreten?

Steinberg: Ich glaube, dass die US-Regierung in den vergangenen Jahren sehr vieles richtig gemacht hat. Präsident Obama hat beispielsweise in Kairo seine vielbeachtete Rede an die islamische Welt gehalten. Dazu kommt der Rückzug aus dem Irak, die gezielte Bekämpfung von al Kaida – da ist vieles auf einem guten Weg.

Was nun solche Filme oder auch Karikaturen angeht – da sind den westlichen Regierungen die Hände gebunden. Denn hier wird es als integraler Bestandteil von Meinungs- und Pressefreiheit gesehen, solche Filme zu produzieren und solche Karikaturen zu veröffentlichen.

Trotzdem können die USA eine Menge machen, um ihr Verhältnis zu einzelnen Staaten dort zu verbessern. Ein kontinuierliches Engagement in der Region ist sicher der richtige Weg – auch, wenn man solche Vorfälle nicht grundsätzlich verhindern kann. Man muss sich aber darüber im Klaren sein, dass es begrenzte Proteste sind, die von einzelnen Akteuren getragen werden – und dass die Mehrheit der Bevölkerung mit Abscheu auf die Gewaltexzesse schaut, die daraus resultieren.