Jugendarbeitslosigkeit in Spanien Schwarzarbeit, Uni oder Deutschland
In Europa ächzt besonders Spanien unter massiver Jugendarbeitslosigkeit. Knapp 55 Prozent der unter 25-Jährigen haben keinen Job. Deswegen heißt es: Deutsch lernen, sagt Spanien-Experte Stehling im Interview mit tagesschau.de.
tagesschau.de: Wie kommt es, dass Spanien so viel stärker von der Jugendarbeitslosigkeit betroffen ist als andere Krisenstaaten?
Thomas Stehling: Es gab die Zeit nach dem Eintritt Spaniens in die Währungsunion, als hier quasi zwei Währungen existierten: Der Euro und der Beton. Es wurden unendlich viele Straßen und Häuser gebaut, da sind Menschen von der Schule direkt auf den Bau gegangen, weil das ein sicheres Einkommen versprach. Die sind mittlerweile entweder arbeitslos oder haben das Land verlassen, weil ihr ursprünglicher Sektor völlig zusammengebrochen ist. Hinzu kommt: Es gab in Spanien immer einen hohen Sockel an Jugendarbeitslosigkeit, etwa 25 Prozent, selbst in der Boom-Zeit. Die Fachleute sagen, unter dem sei es kaum zu schaffen. Aber das kann als Antwort nicht befriedigen.
"Junge Menschen werden entlassen - nicht eingestellt"
tagesschau.de: Aber es gibt auch eine große Zahl von gut ausgebildeten Akademikern, die keinen Job haben.
Stehling: Diese Gruppe stellt das größte politische Problem dar. Das sind die bestausgebildeten Spanier seit der Franco-Diktatur, wirkliche Top-Leute. Denen fehlt eine Perspektive. Das neue Arbeitsrecht von 2011 schafft mehr Flexibilität. Aber es führt zunächst überwiegend zu Entlassungen. Sie betreffen häufig gerade die Jüngeren. Neueinstellungen sind eher die Ausnahme.
tagesschau.de: In Spanien liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei 55 Prozent. Das ist eine immense Zahl. Wie nehmen Sie die Situation in Spanien wahr?
Stehling: Ich nehme das im Alltag in Madrid eigentlich kaum wahr. Anders ist es außerhalb der Hauptstadt. 2011 gab es Proteste, da wurde mit großen Zeltstädten demonstriert, aber das ist alles weg.
"Familien unter Druck"
tagesschau.de: Womit beschäftigen sich denn die jungen arbeitslosen Spanier?
Stehling: Neben Schwarzarbeit gehen viele den Weg zurück an die Uni und holen Abschlüsse nach. Außerdem gibt es unendlich viele Praktikumsplätze. Wo immer sie sind, sieht man Heerscharen von Bewerbern. Weil es keine rechtliche Verpflichtung gibt, Praktikanten zu bezahlen, werden die ausgenutzt. Nur um eine Beschäftigung zu haben, von der sie hoffen, dass sie zu einer Festanstellung führt.
tagesschau.de: Ist das eine realistische Hoffnung?
Stehling: Nein, denn ich sehe nicht, wo das Wachstum herkommen soll, das dafür gebraucht würde.
tagesschau.de: Ist denn so etwas wie ein Verteilungskampf zwischen der Jugend und den Alten festzustellen?
Stehling: Es gibt den Verteilungskampf zwischen Arbeitsplatzbesitzern und -bewerbern. Das bedeutet dann oft auch, zwischen den Jüngeren und den eher Älteren. Die jungen Arbeitslosen leben aber meist bei ihren Familien, die zunehmend selbst an die Grenze dessen stoßen, was sie leisten können. Je mehr die Arbeitslosigkeit wächst, desto mehr gerät auch der stützende Familienverbund unter Druck.
"Andrang auf Goethe-Institute wird zunehmen"
tagesschau.de: Viele Jugendliche sind aus Protest auf die Straße gegangen. Hat das etwas an der Situation geändert?
Stehling: Nicht wirklich. Es gab 2011 viel Aufmerksamkeit für die Protestbewegung, aber das ist verebbt. Das ist traurig, denn dort haben ja nicht Arbeitsverweigerer und Alt-Maoisten protestiert, sondern normale Menschen in Not, die zum Teil mit ihren Eltern kamen.
Was in Spanien fehlt, ist der innere Zusammenhalt und die Einsicht: Wenn wir jetzt unseren Kindern helfen, helfen wir auch uns selbst. Denn wenn sich der Nebel der Finanz- und Wirtschaftskrise irgendwann einmal lichtet, blicken wir möglicherweise auf ein viel größeres Problem, nämlich den Verlust des Ansehens und des Vertrauens in unsere demokratischen Institutionen und Werte.
tagesschau.de: Die Jugendarbeitslosigkeit als Bedrohung für die Demokratie?
Stehling: Als Gefährdung sicherlich. Was will man denn von diesen Menschen erwarten? Dass sie jubelnd über die Straßen laufen und rufen: "Soziale Marktwirtschaft hat sich bewährt!" Wenn man dann noch sieht, dass es denen in Politik, Wirtschaft und Banken, die die Krise verursacht, sie nicht verhindert oder von ihr profitiert haben, immer noch besser geht als denen, die jetzt die Rechnung bezahlen müssen, dann schwindet das Vertrauen notgedrungen. Etwas wie ein Herzog'scher "Ruck" müsste durch diese Gesellschaft gehen. Doch der ist leider nicht festzustellen. Deshalb glaube ich, dass die Zahl derer, die die Goethe-Institute einrennen um Deutsch zu lernen und dann auszuwandern, größer werden wird.
tagesschau.de: Noch einmal zurück zu den Protesten: Stellen Sie eine Resignation fest?
Stehling: Ich sehe ehrlich gesagt nicht, dass die, die bereits gekämpft haben, ihr Heil in weiteren Kämpfen suchen. Die Frage ist aber: Wie lange bleibt der Deckel auf dem Topf?
"Wenn die Wirtschaft läuft, kommen die Spanier zurück"
tagesschau.de: Welche Ziele außer Deutschland sind für die arbeitslosen Spanier denn attraktiv?
Stehling: Es gibt Ärzte, die gehen nach Norwegen oder Finnland. Aber der Durchschnitt der Menschen, die von der Jugendarbeitslosigkeit betroffen sind, geht eher nach Lateinamerika, in Länder, in denen man nicht auch noch die Sprache neu lernen muss. Das Ausland gilt für viele, ob sie vom Bau oder der Hochschule kommen, als die einzige wirkliche Alternative.
tagesschau.de: Würden Sie sagen, dass die spanischen Jugendlichen besonders mobil sind und die momentane Misere als Chance sehen?
Stehling: Nein, das ist ja ein Teil des Problems. In Spanien gab es lange ein Mobilitätsproblem. Jugendliche sind lieber zu Hause bei Muttern geblieben. Die hat die Wäsche gewaschen und für warme Mahlzeiten gesorgt. Der Familienverbund ist in Spanien die stärkste gesellschaftliche Säule. Aber zu Hause zu bleiben, geht nur solange gut, bis äußerer Druck andere Lösungen erzwingt. Das haben wir jetzt. Da bleibt oftmals nicht viel mehr übrig, als ins Ausland zu gehen.
tagesschau.de: Der brain-drain, also die Abwanderung qualifizierter Köpfe, ist ein bekannter Begriff aus der Soziologie. Inwiefern bedroht dieses Problem Spaniens Zukunft?
Stehling: Das wunderbare an den Spaniern ist ja, dass sie trotz aller Probleme ihr Land, die Sonne und auch den Rotwein so sehr lieben, dass sie sich schwer vorstellen können, das auf Dauer nicht mehr zu haben. In dem Moment, wo es hier wieder besser wird, wird es eine große Zahl von Rückkehrern geben. Spanier leben lieber in Spanien, als irgendwo im kalten Norwegen ihren Lebensabend zu verbringen.
Das Interview führte Florian Pretz, tagesschau.de