50 Jahre nach der Katastrophe von Majak Der vertuschte Super-Gau
Wer sich heute an eine Atomkatastrophe erinnert, der denkt an Tschernobyl. Dabei gab es einen ganz ähnlichen - weitaus folgenschwereren - Super-Gau bereits vor genau 50 Jahren. Jahrzehntelang wurde der Unfall von Majak geheim gehalten. Und bis heute sterben die Menschen an seinen Folgen.
Von Christina Nagel, ARD-Hörfunkstudio Moskau
Es war ein warmer, sonniger Herbsttag im Jahr 1957. Sämtliche Schulkinder des Dorfes Karabolka waren auf den Feldern, um bei der Ernte zu helfen. Auch die damals 11-jährige Gulschara Ismagilowa. Sie erinnert sich: "Dann gab es plötzlich diese Explosion, die Erde bebte, alle haben sich furchtbar erschrocken. Die Leute, die im Krieg waren, haben sofort gesagt, der Krieg fängt wieder an! Dann stieg eine Wolke auf, ganz schmutzig, grau und plötzlich sah es so aus, als würde die Sonne untergehen. Wie ein richtiger Sonnenuntergang sah das aus."
Im Chemie- und Waffenkombinat Majak, in dem Stalin heimlich an Atomwaffen bauen ließ, hatte es eine Explosion gegeben. Ein Kühlsystem war ausgefallen. Ein Betontank mit radioaktivem Abfall entzündete sich. 80 Tonnen radioaktives Material wurden freigesetzt und gingen auf die angrenzenden Dörfer nieder. Hunderte Menschen starben damals in den Wochen nach der Explosion. Wie viele Opfer das Unglück bis heute forderte, weiß niemand. Listen wurden angeblich nicht geführt. Die Katastrophe wurde geheim gehalten.
Die Behörden schweigen
Auch Gulschara erkrankte. Sieben Tage lang war sie ohne Bewusstsein, lag mit hohem Fieber im Bett. Kaum war sie wieder auf den Beinen, wurde sie erneut auf die Felder geschickt. Ohne es zu wissen, musste sie - wie viele andere Kinder und Erwachsene auch - die verstrahlte Gegend säubern. Die Ernte musste plötzlich entsorgt werden: "Es hieß, das Gemüse sei verschmutzt, mit irgendetwas. Man dürfe es nicht essen. Aber womit es verschmutzt war, das hat uns keiner gesagt."
Gulschara leidet bis heute unter den Folgen dieser Arbeit. Ihre Hände sind gekrümmt, sie ist hager geworden. Zehn Kilogramm hat sie abgenommen: "Meine Leber ist um zehn Zentimeter gewachsen. Innerhalb von drei Monaten. Ich habe abgenommen, bin schwach geworden."
Dennoch wird sie nicht müde, sich für ihre Belange und die der anderen Dorfbewohner einzusetzen. Hunderte Schreiben hat sie geschickt - an die Ministerien, die Verwaltungen, die zuständigen Beamten. Sie will wissen, warum ihr Dorf nicht evakuiert wurde. Warum die Menschen, die damals den Dreck wegräumten, bis heute nicht richtig entschädigt werden. Befriedigende Antworten bekommt sie allerdings nicht.
Menschen als Versuchskaninchen missbraucht
Die Wissenschaftlerin Natalja Mironowa, Leiterin der nicht-staatlichen Organisation für Sicherheit in der Atomkraft, ist sicher, dass das Dorf Karabolka damals absichtlich nicht evakuiert wurde. Karabolka sei zum Studienobjekt geworden: "Es gab einen Doktor Mengele, an den man sich in Deutschland vielleicht noch erinnert. Wir haben hier auch in Russland unsere Mengeles, die erforschten, wie sich Menschen in extremen Situation verhalten. Sie haben noch vor nicht allzu langer Zeit eine Orden bekommen für ihre einzigartige Forschung, wie Menschen in verstrahlten Gebieten überleben."
Einfach aus Karabolka wegziehen kann Gulschara nicht. Es fehlt nicht nur an Geld. Sie hat den Menschen in Karabolka ihr Wort gegeben: Sie will weiter kämpfen - für mehr Gerechtigkeit, für die Wahrheit - und für ein besseres Leben der Menschen, die auch 50 Jahre nach der Katastrophe von Majak als Versuchsobjekte herhalten müssen und einer täglichen Dosis Radioaktivität ausgesetzt sind.