Griechische Forderungen "Deutschland schmettert Ansprüche ab"
Der Historiker Hagen Fleischer meint, Athen fordere von Berlin zu Recht die Rückzahlung von Zwangskrediten. Deutschland nehme die Griechen aber nicht ernst. Das sorge vor dem historischen Hintergrund für böses Blut, so Fleischer im Gespräch mit tagesschau.de.
tagesschau.de: Deutschland und Griechenland sind Partner in der EU und NATO, doch auch die Folgen der deutschen Besatzung in der NS-Zeit spielen in den Beziehungen bis heute eine große Rolle. Warum?
Hagen Fleischer: Am 6. April 1941 marschierte die Wehrmacht in Griechenland ein und besetzte bis Monatsende Athen und das gesamte Festland. Ende Mai eroberten deutsche Luftlandetruppen trotz schwerer Verluste den letzten freien Platz, Kreta. Widerstand geleistet hatten auch große Teile der kretischen Zivilbevölkerung - getreu einer jahrhundertealten Tradition. Die überraschten Angreifer reagierten hart und exekutieren Hunderte von Kretern. Während der gesamten Besatzungszeit wurden Zigtausende griechische Zivilisten, darunter auch viele Frauen und Kinder, brutal liquidiert, die 60.000 deportierten und ermordeten griechischen Juden nicht eingeschlossen.
Die deutsche Ausplünderung des Landes war einer der wichtigsten Gründe für die epidemische Hungersnot: Allein im ersten Besatzungswinter starben - nach gemäßigten Schätzungen - mindestens 100.000 Griechen am Hunger. Es gibt auch weit höhere Schätzungen von insgesamt 300.000 bis zu 600.000 Opfern. Hinzu kam der jähe Absturz der Geburtenrate. Beim deutschen Abzug litt jeder dritte Grieche an epidemischen Infektionskrankheiten. Kaum zu berechnen sind die Verluste durch die Hyperinflation sowie die Zerstörung der Infrastruktur als Folge raubwirtschaftlicher Ausbeutung. Und das besetzte Griechenland musste sogar noch für die Kosten des Besatzers aufkommen.
tagesschau.de: Die Deutschen pressten Griechenland also aus - wie kam es dann zu den Zwangskrediten, über die bis heute gestritten wird?
Fleischer: Ab dem zweiten Besatzungsjahr forderten die Okkupanten - über die von der Haager Landkriegsordnung "legitimierten" regulären Besatzungskosten hinaus - zusätzliche Beträge für ihre Kriegsführung im östlichen Mittelmeerraum von der griechischen Nationalbank. Diese musste vom März 1942 bis zum deutschen Abzug im Oktober 1944 in jedem Monat - oft mehrfach - beträchtliche Summen als "Kredit" auf ein Sonderkonto der Wehrmacht überweisen. Doch die Inflation galoppierte, der Wechselkurs veränderte sich täglich. Das macht es so schwierig, heute diese "Anleihe" auszurechnen.
Der nächste Unsicherheitsfaktor ist, dass die Besatzungsmacht fast jeden Monat Restbeträge auf ein Tilgungskonto der Nationalbank zurückzahlte. Das heißt: De facto wurde anerkannt, dass es sich tatsächlich um einen Kredit handelte. Eine Rückzahlung - ohne Zinsen allerdings - war auch in Abkommen verbindlich versprochen worden, nur der Zeitpunkt wurde nicht festgelegt. Dieser Besatzungskredit war ein singulärer Fall - nicht zu vergleichen mit deutschen Kriegsschulden in anderen Ländern.
tagesschau.de: Gibt es denn seriöse Schätzungen, wie hoch die Kredite letztendlich waren?
Fleischer: Ich habe als erster im Bundesarchiv eine Denkschrift gefunden, in der Experten des NS-Regimes Anfang 1945 "für künftigen Gebrauch" ausrechneten, wie hoch die "Restschuld des Reichs gegenüber Griechenland" sei. Das Ergebnis: 476 Millionen Reichsmark. Damals entsprachen zwei Reichsmark einem US-Dollar. Das Interessante ist, dass Vertreter des NS-Regimes diese Summe errechneten - für den internen Gebrauch. Im Archiv der griechischen Nationalbank fand ich zwei weitere Kalkulationen, ebenfalls aus dem Jahr 1945. Die detailliertere berechnet den Besatzungskredit auf 228 Millionen Dollar. Das entspricht den deutschen Berechnungen. Gläubiger und Schuldner kamen fast auf die gleiche Summe - zum gleichen Zeitpunkt. Wäre das nicht eine Verhandlungsbasis für heute?
"Angst vor einem Präzedenzfall"
tagesschau.de: Und was folgte daraus?
Fleischer: Viele Griechen haben mit Zins und Zinseszins gerechnet und kamen teilweise auf astronomische Summen. Ich habe griechischen Ministerpräsidenten und anderen Politikern stets von maximalistischen Forderungen abgeraten. Denn, obwohl Griechenland in Sachen Reparationen den wohl größten Nachholbedarf hat, ist es ausgeschlossen, dass die Bundesrepublik das Thema wieder aufnimmt - aus Angst vor einem Präzedenzfall. Doch eine solche Gefahr besteht nicht, wenn die Bundesregierung die Mauertaktik aufgibt und sich bereit erklärt, die verschiedenen Sichtweisen zum Besatzungskredit aufgrund der Aktenlage am Verhandlungstisch zu untersuchen.
tagesschau.de: Aber warum konnte Griechenland dann bis heute keine Rückzahlung erreichen?
Fleischer: Vom Londoner Schuldenabkommen 1953, einem mithilfe Washingtons erwirkten Reparationsmoratorium, bis 1990 hieß es von deutscher Seite, es sei zu früh, denn das gesamte Deutschland habe den Krieg geführt. Und nach der Wiedervereinigung sagten dann Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher, jetzt sei es doch viel zu spät. Das Thema sei obsolet. Und diese Haltung gilt bis heute. Das stört viele Griechen - auch mich als griechischer und deutscher Staatsbürger. Mein erstes Vaterland ist historisch, finanziell und moralisch nicht im Reinen mit meinem zweiten Vaterland.
tagesschau.de: Wie umstritten ist dieses Thema in der griechischen Politik?
Fleischer: Es ist das einzige Thema, bei dem sich alle Parteien im Parlament - von den Faschisten bis zu den orthodoxen Kommunisten - einig waren: Dass dieses Geld von Deutschland eingeklagt werden muss.
tagesschau.de: Haben die Griechen das Gefühl, dass Deutschland sie überhaupt ernst nimmt?
Fleischer: Leider nicht. Und das sorgt für böses Blut. Deutschland war in Griechenland sehr beliebt - trotz der grausamen Besatzungszeit, die schlimmer war als in jedem anderen nicht-slawischen Land. Doch insbesondere nach Ausbruch der Krise ergötzen sich leider viele deutsche Medien in hämischen Kommentaren und Karikaturen, wonach die Griechen Trickser und Betrüger seien, die jetzt - "da sie pleite sind" - plötzlich "angebliche" deutsche Schuld und Schulden der Kriegszeit aus dem Zylinder herausholen. Doch seit 1945 haben die Griechen diesen Anspruch kontinuierlich vorgetragen - ohne Erfolg.
Und wenn deutsche Medien nun demagogisch von "Betrügern der Euro-Zone" oder "Pleite-Griechen" schreiben, die endlich ihre Inseln verramschen sollen, dann spielen sie den hiesigen Demagogen in die Hände. Denn hier kommen böse Erinnerungen an 1941 bis 1944 hoch, als die selben Stereotype die Besatzungspolitik bestimmten und Kreta als Vorposten des "künftigen NS-Weltreichs" auf immer in deutscher Hand bleiben sollte.
tagesschau.de: Sie widersprechen der deutschen Position also und meinen, die Rückzahlung der Zwangskredite habe nichts mit Reparationszahlungen zu tun?
Fleischer: Ja. Die Haltung der Bundesregierung ist leider peinlich. Das Nazi-Regime hatte sogar selbst ausgerechnet, wie hoch die ausstehenden Rückzahlungen der Kredite waren. NS-Deutschland hätte wohl kaum selbst die Höhe künftig zu zahlender Reparationen kalkuliert. Griechenland fehlen aber einfach die Möglichkeiten, seinen Anspruch durchzusetzen gegenüber dem deutschen Partner, der diesen mit dem Recht des Stärkeren abschmettert. Bis heute.
Das Interview führte Patrick Gensing, tagesschau.de