Friedensforscher Brück zum Syrien-Konflikt "Ein Angriff schafft keinen Frieden"
Ein Rechtsstaat darf nicht so handeln wie ein Verbrecher, der vor Gericht steht. Das sagt Tilmann Brück vom Friedensforschungsinstitut SIPRI im Interview mit der ARD. Im Syrien-Konflikt sei daher die Zusammenarbeit der Staatengemeinschaft oberstes Ziel.
ARD-Studio Stockholm: Präsident Barack Obama will jetzt erstmal abwarten und den Kongress befragen. Ist das für Sie ein Zeichen von Stärke oder von Schwäche?
Tilmann Brück: Das ist ein Zeichen von Stärke. Das ist gut für den Frieden, auch wenn es innenpolitisch vielleicht als Schwäche ausgelegt wird - er kann nicht den Macho-Mann markieren. Aber eigentlich brauchen wir Institutionen und Parlamente, die über Krieg abstimmen.
Tilmann Brück ist Direktor des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI. Die renommierte wissenschaftliche Einrichtung gibt Jahresberichte zu den Themen Frieden und Sicherheit im Kontext globaler Entwicklungen heraus.
ARD-Studio Stockholm: Jetzt ist Präsident Obama in Stockholm. Wenn Sie ihn treffen könnten, was würden Sie ihm raten?
Brück: Ich würde ihm raten, Druck auf Russland und auf China zu machen und gemeinschaftlich zu handeln. Es ist weniger wichtig, was genau passiert, sondern dass die internationale Staatengemeinschaft zusammenarbeitet und versucht, die Massenvernichtungswaffen - sei es in Syrien oder sei es im Iran - gemeinsam zu kontrollieren. Das muss das erste Ziel sein.
ARD-Studio Stockholm: Wie könnte man - beispielsweise beim G20-Gipfel - China und Russland mit ins Boot holen?
Brück: Russland und vor allem Präsident Wladimir Putin möchten ernst genommen werden, sie möchten mitspielen, sie möchten in der obersten Liga sein. Sie haben Angst, dass sie zurückfallen. Putin wackelt intern und man muss ihm die Möglichkeit geben, gehört zu werden und im Gegenzug aber auch auf Kompromisse einzugehen.
ARD-Studio Stockholm: Wie wackelt Putin intern?
Brück: Putin ist schon lange an der Macht, entweder direkt oder indirekt, und die Basis seiner Macht fängt an zu bröckeln. Das wirkt sich auf seine Außenpolitik aus. Er möchte sich international profilieren, um zu Hause punkten zu können.
ARD-Studio Stockholm: Nun steht aber erst einmal die mögliche Strafaktion ins Haus, also die Bestrafung des Regimes. Klingt das nicht fast so ein bisschen wie: Ein Boxer kommt und sagt "Pfui, wir hauen euch ein bisschen auf die Finger, aber wir tun euch nicht weh?"
Brück: Für mich klingt das nach Wildem Westen. Es geht in die Richtung von Lynchjustiz. Eigentlich wäre ein offenes und faires Verfahren wichtig. Das ist das, was uns in der Demokratie auszeichnet, dass wir eine unabhängige Justiz haben. Und dass wir Regeln haben, die, wenn gemordet und getötet wird, dafür sorgen, dass der Rechtsstaat nicht genauso handelt wie der Verbrecher, der vor Gericht steht. Das fehlt uns international und kann durch eine plötzliche Aktion der Amerikaner auch nicht kompensiert werden.
ARD-Studio Stockholm: Sie sehen aber, wenn ich das richtig verstehe, durchaus noch Chancen, die Russen für eine mögliche UN-Resolution mit ins Boot zu holen.
Brück: Ich glaube, es ist möglich. Alle Parteien müssen aber auch Willen zur Zusammenarbeit zeigen. Man kann sich nicht einfach hinter Putin verstecken und sagen: "Die würden sowieso nicht mehr mitmachen". Man muss weiter mit ihnen arbeiten. Der Krieg in Syrien dauert schon lange an. Es gab schon viele Todesopfer, Millionen sind auf der Flucht. Jetzt nur wegen der Chemiewaffen plötzlich zu handeln, ist auch nicht glaubwürdig.
ARD-Studio Stockholm: Nehmen wir diese Bestrafungsaktion. Was soll denn da konkret angegriffen werden?
Brück: Was nicht erreicht werden kann, ist das Ausschalten oder das Vernichten der Chemiewaffen selbst. Es geht also wirklich nur um einen symbolischen Angriff gegen das Regime, um zu zeigen, dass es diese berühmte rote Linie gibt, die eben doch nicht überschritten werden darf. Das ist wie ein Spiel: Auge in Auge und Angesicht zu Angesicht, und wer zuerst blinzelt, hat verloren. Im Moment scheint sich das syrische Regime sehr sicher zu sein, dass es tun und lassen kann, was es will, dass es international nicht belangt wird. So sehr ich die Emotionen hinter der amerikanischen Reaktion verstehen kann, langfristig schafft es nicht mehr Frieden, wenn man jetzt diesen Angriff startet.
ARD-Studio Stockholm: Warum werden denn die syrischen Chemiewaffenarsenale unangetastet bleiben?
Brück: Weil es einfach zu gefährlich ist, sie anzugreifen. Wir wissen auch nicht, ob das Regime eventuell einige dieser Waffenarsenale an Orte geschafft hat, wo wiederum Zivilisten sterben würden, wenn sie Chemiewaffen unkontrolliert ausgesetzt würden. Außerdem wissen wir nicht, wer danach die Chemiewaffen - oder die verbleibenden Arsenale und Reste dieser Mittel - kontrollieren würde. Sollte das Regime die Kontrolle über die Mittel verlieren, könnte es sein, dass im Zuge der Angriffe Oppositionelle jeglicher Couleur versuchen, sich Kontrolle zu verschaffen. Also: Chemiewaffenkontrolle durch Luftangriffe - das funktioniert nicht.
ARD-Studio Stockholm: Wie groß ist das C-Waffenarsenal in Syrien?
Brück: Es ist schwer zu sagen, wie viele C-Waffen sie genau haben und kontrollieren. Aber es ist eine signifikante Zahl. Das Regime hat systematisch daran gearbeitet, diese Kapazität auszubauen. C-Waffen sind in gewisser Weise die Atomwaffen des armen Mannes. Assad versucht, dadurch in der Region Einfluss auszuüben und politische Stärke zu behalten - und es ist ja auch international unklar, was passiert, wenn diese Waffen eingesetzt werden. Von daher ist das wie ein Joker für das Regime, auf ganz zynische Art: Wir haben das Potenzial, diese Waffen einzusetzen, wir bleiben also wichtig.
ARD-Studio Stockholm: Da dieser Joker in der Hand der Assad-Familie ist, wie groß ist dann überhaupt noch die Chance, eine politische Lösung mit denen zu finden?
Brück: Ich glaube, es geht mittlerweile nicht mehr nur um das Assad-Regime. Das Regime hat den Konflikt ja bewusst herbeieskaliert, um sich an der Macht zu halten. Es hat sozusagen das Prinzip "mitgefangen, mitgehangen" angewandt. Es hat andere Gruppen mit in den Konflikt hineingezogen, um die relative Position seiner Seite zu stabilisieren und zu stärken. Man muss auch an Akteure jenseits von Präsident Assad denken und versuchen, ganze Bevölkerungsgruppen zum Frieden zu motivieren. Ich glaube, es geht wirklich nicht nur noch um die Person Assad.
ARD-Studio Stockholm: Trotzdem: Er und seine Familie wissen jetzt, dass die Welt zögert, dass es schwer ist, eine Antwort zu finden. Können Assad und sein Regime das weiter ausnutzen?
Brück: Ja, es ist zum Beispiel denkbar, dass ein "Gegenangriff" kommt, auf die eigene Bevölkerung. Dass das Regime erneut Chemiewaffen einsetzt, um zu zeigen: Die paar Raketen schrecken uns nicht, wir sind trotzdem hier. Durch Luftraketen wird das Regime nicht sofort stürzen - das ist relativ fest verankert und weiß genau, wo es steht. Es ist also denkbar, dass Assad weiterhin den Westen provozieren wird, weil er weiß, dass ein Einmarsch westlicher Truppen sehr unwahrscheinlich ist.
ARD-Studio Stockholm: Können Luftschläge des Westens die Situation im Nahen Osten weiter eskalieren?
Brück: Es ist unklar, was passiert. Die Situation ist schon sehr verworren mit dem Krieg im Irak, mit der Situation im Iran. In der Türkei und auch im Libanon ist die Lage schwierig. Es ist nicht sicher, dass Luftangriffe das Pulverfass unbedingt zum Explodieren bringen würden. Man sollte da nicht zu pessimistisch sein.
ARD-Studio Stockholm: Wenn wir von Optimismus sprechen: Was wäre denn jetzt die optimistischste Hoffnung mit Blick auf den G20-Gipfel?
Brück: Dass unter dem Eindruck der Bilder des Chemiewaffeneinsatzes der Westen mit Russland redet und Russland sieht, dass es im eigenen Interesse ist, das Assad-Regime in gewisser Weise fallenzulassen, um einen Dialog mit dem Westen am Leben zu halten. Das wäre das beste Ergebnis, was man vom Gipfel erwarten kann.
ARD-Studio Stockholm: Und Sie sehen eine Chance, dass das passiert?
Brück: Es gibt immer eine Chance für Frieden. Man kann immer über Dialog versuchen, Einfluss zu nehmen. Man kann immer versuchen, eine wirkliche Koalition zu schmieden. Zu sagen, dass es keine Hoffnung gibt, ist auch empirisch nicht richtig: Kriege werden immer irgendwann beendet und man muss versuchen, den Zeitpunkt, zu dem sie beendet werden können, so früh wie möglich zu identifizieren.
Das Interview führte Tim Krohn, ARD-Studio Stockholm