EU-Kommission entscheidet über Vertragsverletzungsverfahren Das gewagte Spiel des ungarischen Premiers
Viele Reformen der ungarischen Regierung sind höchst umstritten. Möglicherweise verstoßen sie auch gegen EU-Recht. Die EU-Kommission entscheidet heute, ob sie ein Verfahren einleitet. Anzeichen, dass Premier Orban noch einlenkt, gibt es nicht.
Von Jörg Paas, ARD-Hörfunkstudio Wien
Eigentlich steht er mit dem Rücken zur Wand, doch im Interview lässt Viktor Orban sich alle Optionen offen. Was wird er tun, wenn die EU-Kommission tatsächlich ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn eröffnet? Ist er dann bereit, umstrittene gesetzliche Regelungen zurückzunehmen?
"Argumente, die weit entfernt sind von unseren Vorstellungen"
Ja und doch wieder nein, so die sibyllinische Antwort des ungarischen Premierministers. Hauptthema sei das Notenbankgesetz. "Hier hat die EU bereits rechtliche Argumente angeführt, und nicht nur eigene politische Standpunkte. Argumente, die wir akzeptieren, so dass ich keinen Grund sehe, diese nicht anzuerkennen. Aber es gibt auch Argumente, die weit entfernt sind von unseren Vorstellungen", so der Regierungschef.
"Das ist eine ungarische Angelegenheit"
Bei anderen Kritikpunkten der EU-Kommission ist Orban von vornherein wenig gesprächsbereit. Ein Beispiel: die Justizreform. Das Pensionsalter für Richter soll zunächst gesenkt, in zwei Jahren aber schon wieder erhöht werden. In Brüssel befürchtet man, dass diese Maßnahme lediglich dazu dient, unliebsame Juristen loszuwerden.
"Hinsichtlich der Richter hat die EU keine Kompetenz, das ist eine ungarische Angelegenheit", so der Kommentar von Orban zu diesem Thema. "Das Pensionsalter scheint eine Streitfrage zu sein. Dabei ist es doch gerade die Europäische Union, die transparente und klare Pensionsregelungen fordert. Und die gibt es in Ungarn."
"Keine politische Meinung, sondern handfeste Argumente"
Auch die Kritik der EU-Kommission an der Bestellung des neuen Datenschutzbeauftragten hält Ungarns Regierungschef nicht für berechtigt. Weiterhin gelte, so Orban, dass bei derartigen Fragen keine politische Meinung gefragt sei, sondern bitteschön handfeste Argumente. Beim Thema Datenschutz gehe es "nur um ein Staubkorn im Getriebe". Ungarn habe im Herbst das Amt und die Kompetenzen des Datenschutzbeauftragten neu geregelt. "Der damalige Amtsinhaber hat dagegen mehrfach protestiert. Deshalb haben wir ihn nicht gefragt, ob er das neue Amt übernehmen will, sondern haben einen Nachfolger gesucht. Das wird beanstandet, wir werden das klären."
Was verspricht sich Orban von seiner Strategie?
Als Folge eines Vertragsverletzungsverfahrens könnten dringend benötigte Gelder aus regulären Strukturförderprogrammen der EU für Ungarn gesperrt werden. Vor allem aber drohen Verhandlungen über ein gemeinsames milliardenschweres Hilfsprogramm von EU und Internationalem Währungsfonds (IWF) zu scheitern, noch ehe sie richtig begonnen haben. Die Zahlungsunfähigkeit Ungarns wäre spätestens im Frühjahr nicht mehr auszuschließen.
Was also verspricht sich Viktor Orban von seiner Strategie? Möglicherweise setzt er darauf, dass die von der EU geforderten Änderungen nach genauer juristischer Prüfung deutlich geringer ausfallen als ursprünglich formuliert. Das meint jedenfalls der Politikwissenschaftler Zoltan Kiszely.
Die Regierung in Budapest warte darauf, "dass die Kommission ganz genau sagt, Paragraf soundso verstößt nach unserer Auffassung gegen das Gemeinschaftsrecht", so Kiszely. "Das ist auch schon beim Mediengesetz passiert: vieles ist kritisiert worden, aber die Kommission konnte nur drei konkrete Punkte beanstanden, die gegen die audiovisuelle Richtlinie der EU verstoßen haben. Und Budapest hat diese drei konkreten Punkte sofort revidiert."
Das internationale Vertrauen ist langst verspielt
Letzten Endes, so Orbans mögliche Kalkulation, stünde die EU-Kommission als Papiertiger da, und er selbst könnte endlich wieder einmal bei seiner Anhängerschaft punkten. Doch dieses Spiel ist gleich in mehrfacher Hinsicht gewagt. Das internationale Vertrauen hat die Regierung längst verspielt, und auch zuhause in Ungarn haben sich inzwischen viele Wähler von 2010 enttäuscht von der regierenden Fidesz-Partei abgewandt.