Gasblasen oberhalb eines Lecks der Nord-Stream-Pipeline
faktenfinder

Nord Stream-Explosionen Weitere Unstimmigkeiten in Hersh-Bericht

Stand: 23.02.2023 16:55 Uhr

Der US-Journalist Hersh hatte behauptet, die USA und Norwegen steckten hinter den Explosionen an den Pipelines von Nord Stream 1 und 2. Doch mehrere Details seines Berichts halten einer Überprüfung nicht stand.

Von Pascal Siggelkow, ARD-faktenfinder

Die Diskussionen über die Explosionen an mehreren Röhren der Ostseepipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2 dauern an. Während sich Russland durch den Bericht des US-amerikanischen Journalisten Seymour Hersh in seiner Ansicht bestätigt sieht, riefen die Vereinten Nationen angesichts verschiedener Schuldzuweisungen zur Zurückhaltung auf.

"Wir sollten alle unbegründeten Anschuldigungen vermeiden, die die bereits erhöhten Spannungen in der Region weiter eskalieren und möglicherweise die Suche nach der Wahrheit behindern könnten", sagte die UN-Beauftragte für politische Angelegenheiten, Rosemary DiCarlo, diese Woche vor dem UN-Sicherheitsrat. Die Vereinten Nationen könnten keine Behauptung bestätigen. Die Ergebnisse der laufenden nationalen Untersuchungen Deutschlands, Schwedens und Dänemarks müssten abgewartet werden.

Doch von diesen Ermittlungen ist weiterhin nur sehr wenig bekannt. Auf Anfrage des ARD-faktenfinders verweist ein Sprecher der Bundesregierung lediglich auf die Fragestunde vom 8. Februar im Deutschen Bundestag. Dort sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck, dass die Ermittlungen geheimdienstlich eingestuft und Teil einer geheimdienstlichen Aufklärung seien. Die Ermittlungen des Generalbundesanwalts gegen Unbekannt dauern an.

Russland sieht sich bestätigt

Die Geheimhaltung der Bundesregierung und auch der anderen Staaten, die laufende Untersuchungen zu dem Fall haben, heizt die Spekulationen weiter an. Der russische Außenminister Sergej Lawrow nutzte den Bericht von Hersh, um das Narrativ zu verbreiten, der Westen würde Wissen bewusst zurückhalten, um die eigene Täterschaft zu vertuschen. Ähnlich hatte es Russland bereits bei den Ermittlungen zum Abschuss von Flug MH17 gemacht - dabei stellte sich am Ende heraus, dass das Flugzeug aus dem Gebiet der prorussischen Separatisten abgeschossen wurde. Die Rakete dafür wurde von Russland geliefert.

"Schauen Sie sich an, wie man im Westen auf die konkreten und auf zahlreichen Fakten basierten Enthüllungen des US-Journalisten Seymour Hersh im Zusammenhang mit den Explosionen an den Nord Streams reagiert", sagte Lawrow. "Er präsentiert konkrete und mit Zeitangaben versehene Fakten zu diesbezüglichen Besprechungen im Weißen Haus und in anderen Ressorts der US-Administration. Was er zu Papier brachte, stimmt mit faktisch registrierten Vorkommnissen an den Gasleitungen überein."

Kein Minenkampfschiff der Alta-Klasse dabei

Doch genau daran gibt es immer mehr Zweifel. Bereits kurz nach der Veröffentlichung seines Berichts hatten Experten darauf hingewiesen, dass es einige Ungereimtheiten an Hershs Version gibt. Mithilfe von Open Source Intelligence (OSINT) sind mittlerweile weitere Details ins Wanken geraten.

Oberstleutnant Vegard Norstad Finberg, Pressesprecher der norwegischen Streitkräfte, deren Navy laut Hersh zusammen mit der US-amerikanischen Navy die Sprengsätze an den Gaspipelines angebracht und Monate später per Sonoboje ausgelöst haben soll, nennt die Vorwürfe gegenüber dem ARD-faktenfinder "haltlos". So hatte Hersh behauptet, die Taucher hätten ihre Operation von einem norwegischen Minenkampfschiff der sogenannten Alta-Klasse aus durchgeführt. Dem widerspricht Finberg: Es habe kein Schiff der Alta-Klasse in der Nähe der Explosionsstellen während des NATO-Manövers BALTOPS im vergangenen Jahr operiert.

Das bestätigt der dänische Datenanalyst Oliver Alexander. Dieser hat die Bewegungen der Schiffe der Alta-Klasse zu der Zeit des Manövers nachverfolgt. Danach waren die beiden noch aktiven Schiffe in und um Norwegen zu der besagten Zeit unterwegs, und zwar weit weg von der dänischen Insel Bornholm, in deren Nähe die Explosionen stattfanden.

Zu weit entfernt für Einsatz?

Das einzige Minenkampfschiff der norwegischen Navy, das während des BALTOPS-Manöver in der Ostsee unterwegs war, ist die KNM Hinnøy. Diese gehört nicht zur Alta-Klasse, sondern zu der sogenannten Oksøy-Klasse. Auch hier teilt die norwegische Navy mit, dass das Schiff "niemals nahe dem Bereich war, in dem die Nord-Stream-Röhren Monate später gesprengt wurden".

Auch das hat Alexander anhand von OSINT-Daten untersucht. Das Ergebnis: Das Schiff war danach zu keinem Zeitpunkt näher als 8,6 Seemeilen (knapp 16 Kilometer) an einen der Explosionsstellen. Von dort aus hätte es ihm zufolge 62 Minuten gedauert, eine der Stellen zu erreichen; hinzu komme die Zeit für den Taucheinsatz. Satellitenbilder gäben zudem keinen Anlass dafür, davon auszugehen, dass das Schiff zwischenzeitlich heimlich seine GPS-Daten verschleiert habe. Das Schiff sei zudem in einer Formation mit drei weiteren NATO-Kriegsschiffen unterwegs gewesen.

Auch der OSINT-Experte Joe Galvin wies auf Twitter darauf hin, dass die KNM Hinnøy nicht nahe genug an den Pipelines gewesen sei, um beispielsweise ein Taucherteam zu manövrieren.

Hersh behauptete zudem gegenüber der russischen Nachrichtenagentur TASS, dass das norwegische Schiff für die Taucher mit einer Dekompressionskammer von der CIA ausgestattet gewesen sei. Eine solche Kammer dient dazu, sich nach langen und tiefen Taucheinsätzen an den atmosphärischen Luftdruck anzupassen, um Dekompressionserkrankungen vorzubeugen. Auf Videos, die die teilnehmenden Schiffe nach Ende des Manövers beim Einlaufen in den Kieler Hafen zeigen, ist solch eine Kammer jedoch auf keinem Schiff zu erkennen - auch nicht auf der norwegischen KNM Hinnøy (ab Minute 4:30).

Was für ein Sprengstoff wurde verwendet?

Auch zu den Details hinsichtlich der Detonationen gibt es noch Unklarheiten. Hersh schreibt, die Taucher hätten den plastischen Sprengstoff C4 in Form von sogenannten Schneid- oder Hohlladungen "auf den vier Pipelines mit Betonschutzhüllen" platziert.* Allerdings gibt es nur an drei der vier Pipelines Zerstörungen, eine Röhre von Nord Stream 2 blieb unbeschädigt. Ob Sprengladungen versagten oder ein Viertel der Transportkapazität bewusst verschont blieb, ist Stand heute unklar.

Zudem zeigen nach Ansicht von Experten die Ausprägungen der Seismogramme durch die Explosionen, dass die Detonationen ein TNT-Äquivalent von mehreren Hundert Kilogramm gehabt haben müssen. "Mit 300 bis 400 Kilogramm C4-Sprengstoff dürfte man pro Sprengung auf der sicheren Seite sein", sagt David Domjahn, Lehrbeauftragter für Sprengtechnik am Karlsruher Institut für Technologie (KIT).

"Das Spurenbild gibt keinen Hinweis darauf, dass sogenannte Schneidladungen oder Hohlladungen zum Einsatz kamen", sagt Domjahn. "Schneidladungen müssten radial um die Rohrleitungen positioniert werden, was mit hohem Arbeitsaufwand verbunden ist und entsprechend Zeit kostet. Hohlladungen erzeugen einen 'Stachel', der zwar zur Zerstörung geeignet ist, aber punktuell wirkt. Mit dieser Wirkung dürfte ein Eindrücken der Pipelines in den Meeresboden nicht erreicht werden, zumal für eine Hohlladung keine 200-300 kg Sprengstoff erforderlich sind."

Grundminen statt C4?

Domjahn hält die Verwendung von Grundminen für deutlich wahrscheinlicher. Denn diese hätten einfach von einem Schiff aus ins Wasser gelassen werden können, der Aufwand wäre viel geringer gewesen, als durch Taucher einzelne Sprengladungen an die wohl bewachsenen Gasleitungen anzubringen und gegen die Strömung zu sichern.

Dass ein staatlicher Akteur hinter den Explosionen steckt, ist sich Domjahn sicher. Welcher jedoch, könnten nur die Ermittlungen ans Licht bringen. "Für eine qualifizierte Aussage über den eingesetzten Sprengstoff, seine Form und Positionierung bedarf es der Forensik der beschädigten Leitungen. Bis dahin sind Aussagen zum eingesetzten Sprengstoff Spekulation."

Aufklärungsflugzeug war nicht über Ostsee

Auch der Flug des norwegischen Aufklärungsflugzeugs P-8, das laut Hersh die Sonoboje am 26. September in die Ostsee hat fallen lassen, um die Explosionen auszulösen, lässt sich so im Detail nicht verifizieren. Oberstleutnant Finberg teilt mit, dass die norwegische P-8 Poseidon noch nie in dem genannten Gebiet war. "Die P-8 war bisher nicht im operativen Betrieb und hat nur Testflüge im norwegischen Luftraum geflogen." Das deckt sich mit der Pressemitteilung der norwegischen Streitkräfte aus dem Februar 2022, wo darauf hingewiesen wird, dass die P-8 erst Anfang 2023 das Aufklärungsflugzeug P-3 Orion ersetzen wird.

Auch aus Flugdaten geht hervor, dass die P-8 lediglich einige Testflüge im September 2022 unternommen hat, davon jedoch keinen in der Nähe der späteren Detonationen. Da es sich laut Hersh um ein als Routineflug getarntes Manöver gehandelt haben soll, spricht es dagegen, dass die Bewegungsdaten bewusst verschleiert worden sind. Auch das norwegische Aufkärungsflugzeug P-3 war an dem 26. September nicht über der Ostsee unterwegs.

Flugdaten zeigen hingegen, dass ein P-8-Aufklärungsflugzeug der US Navy an dem Tag über der Ostsee geflogen ist - allerdings erst mehr als eine Stunde nach dem Zeitpunkt der Explosion. Somit lässt sich dieses Detail in Hershs Bericht nicht beweisen.

Auch Hershs Part zu NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg wirft Fragen auf. Hersh schreibt, der ehemalige norwegische Ministerpräsident sei ein Hardliner in Sachen Putin und Russland und habe seit dem Vietnamkrieg mit dem US-amerikanischen Geheimdienst zusammengearbeitet. Doch selbst im letzten Jahr des Vietnamkriegs 1975 war Stoltenberg gerade einmal 16 Jahre alt.

Hersh verbreitet russisches Narrativ vom Krieg

In Interviews nach Veröffentlichung des Berichts hat Hersh zum Teil fragwürdige Aussagen getroffen. Auf die Frage, warum er seine Recherche nicht beispielsweise der "New York Times" angeboten habe, sagte er, dass die Zeitung entschieden habe, "dass der Krieg in der Ukraine von der Ukraine gewonnen wird". Das sei es, was die Leser von der Redaktion zu hören und zu lesen bekämen, und so solle es sein.

Das Engagement des US-Präsidenten Joe Biden für die Ukraine könne er nicht verstehen. In den USA gebe es einen "enormen anhaltenden Hass auf alles, was mit Putin zu hat". Hersh glaube nicht, dass Putin Europa übernehmen wolle. "Er will die Ukraine zähmen", sagte er mit Blick auf den russischen Angriffskrieg. Zudem warf er dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj vor, Schuld daran zu sein, dass der Krieg noch nicht beendet sei. "Im Moment ist es eine Frage, wie viele von seinen eigenen Leuten Selenskyj noch töten will." Diese haltlosen Äußerungen entsprechen sehr dem russischen Narrativ.

Ebenso wie seine Aussagen in Bezug auf Deutschland. Aufgrund der Explosionen der Pipelines würden hier Haushalte kalt bleiben und es eine "Menge Wut" geben.

Eine Anfrage des ARD-faktenfinders an Hersh zu den Ungereimtheiten in seinem Bericht blieb unbeantwortet.

*Anmerkung: In einer früheren Version war von Sprengstoff "in Form von Pflanzen" die Rede. Dabei handelte es sich um einen Übersetzungsfehler. Hersh schreibt von "plant shaped C4 charges". Das Wort "plant" ist in diesem Fall jedoch nicht mit "Pflanze" zu übersetzen, sondern mit "platzieren". Der Absatz wurde korrigiert.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 16. Februar 2023 um 15:44 Uhr.