Soziologe Werner Bergmann im Interview Antisemitismus - "ein Versuch, die Schuld abzuwehren"
Judenfeindlichkeit ist in der deutschen Gesellschaft tief verankert - zu diesem Ergebnis kommt der für den Bundestag erstellte Antisemitismus-Bericht. Der Soziologe Bergmann war als beratender Gutachter an der Erstellung des Berichts beteiligt. Im tagesschau.de-Interview erläutert er die Hintergründe des Antisemitismus in Deutschland.
tagesschau.de: Der jüngste Antisemitismus-Bericht stellt fest, dass Judenfeindlichkeit in Deutschland noch immer an der Tagesordnung ist. Wie äußert sich das?
Werner Bergmann: Antisemitismus kann sich auf ganz verschiedenen Ebenen äußern. So finden wir direkt an Juden gerichtete Beleidigungen, Drohungen oder sonstige ressentiment-geladene Äußerungen. Also zum Beispiel in Zuschriften an den Zentralrat, jüdische Gemeinden oder die israelische Botschaft, in denen Juden oder Israel beschimpft oder bestimmter Dinge bezichtigt werden - beispielsweise, dass Israel einen "Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser" führe.
Daneben gibt es die Ebene der Straftaten, also Übergriffe auf Personen, Friedhofsschändungen oder judenfeindliche Propaganda im öffentlichen Raum und in einigen Medien, auch im Internet. Und es gibt die Ebene der Einstellungen oder der Vorurteilsäußerungen, die im Bekanntenkreis, am Stammtisch geäußert werden, sich aber nicht direkt an Juden wenden müssen. Zum Beispiel wird dann behauptet: "Die Juden haben zu viel Macht auf der Welt", oder sie steckten hinter der Finanzkrise oder der Globalisierung; sie würden die Kultur eines Landes verderben oder selbst schuld am Holocaust sein.
"Lehman Brothers, Goldman Sachs - sind das nicht jüdische Banken?"
tagesschau.de: In welcher Form verhalten sich Menschen in der Mitte der Gesellschaft antisemitisch?
Bergmann: Dort finden wir eher die zuletzt genannten Vorurteile über jüdische Macht oder den Einfluss auf die Finanzwelt - wie beispielsweise "Lehman Brothers, Goldman Sachs, sind das nicht jüdische Banken?". Oder man verbindet antisemitische Ressentiments und Stereotype mit dem Staat Israel.
Die Straftaten hingegen werden in der Regel von jüngeren, männlichen Jugendlichen begangen, die zumeist dem rechtsextremen Spektrum zuzurechnen sind. Wir kennen das von den "Jude, Jude"-Rufen im Fußballstadion der unteren Ligen. Das stammt eher aus einem rechtsorientierten Milieu.
Von der Wiedergutmachung zur Finanzkrise
tagesschau.de: Gibt es eine neue Qualität des Antisemitismus?
Bergmann: Eine neue Qualität sehe ich nicht, auch bin ich ein bisschen skeptisch, was die Frage angeht, ob sich der Antisemitismus weiter verbreitet hat. Dafür sind die empirischen Belege doch noch relativ dünn. Es zeigen sich in Umfragen leichte Verschiebungen im politischen Spektrum, von ganz rechts etwas weiter bis in die rechte Mitte. Auch spielt das Thema Israel eine wesentlich größere Rolle für antisemitische Argumentationen als noch vor zehn Jahren und die schwer zu kontrollierende größere Verbreitung über das Internet ist sicherlich ein neuer Faktor.
In den frühen 50er-, 60er-, 70er-Jahren hat man den Vorwurf der Geldgier häufig mit den Wiedergutmachungszahlungen verbunden. Es ist lange auf der Schiene gelaufen: "Die Juden wollen eigentlich immer Geld aus dem Holocaust ziehen." Da wurde den Juden vorgeworfen, die Deutschen an ihre Schuld zu erinnern, um Geld zu erpressen.
Inzwischen hat sich das auf andere Themen verschoben, zum Teil auf die Finanzkrise und zum Teil auf die mit der Globalisierung einhergehenden Krisen und Veränderungen. Das Klischee "Juden und Geld" bleibt also erhalten, es wird auf immer neue, aktuelle Themen bezogen, die in der Diskussion sind. Insofern hat sich inhaltlich nicht viel verändert, sondern die Redeanlässe werden aktualisiert.
Verärgerung über historische Schuld
tagesschau.de: Aber woher kommt es, dass immer wieder die Juden als Sündenböcke herhalten müssen?
Bergmann: Ich denke, gerade in Deutschland fühlt man sich durch das Dritte Reich und den Holocaust mit Schuld belastet, die man dadurch abzuwehren versucht, dass man den Juden selber bestimmte "Schandtaten" oder negative Eigenschaften zuschreibt. In Bezug auf Israel ist deutlich, dass dort sehr häufig mit Begriffen operiert wird wie "Apartheids-Staat" oder "Rassengesetze". Man vergleicht den Gaza-Streifen mit dem Warschauer Ghetto, oft ist die Rede von einem Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser oder von Genozid - das sind deutliche Zeichen dafür, dass man sagen möchte: "Die Juden sind eigentlich auch nicht besser als wir, also dürfen sie uns nicht immer unsere Verbrechen während des Holocausts vorhalten."
Wenn man sich die Umfrageergebnisse anschaut, gibt es einen sehr hohen Anteil an Befragten, die sagen, sie ärgern sich, den Holocaust immer noch vorgehalten zu bekommen. Dann wird gefragt, wer ein Interesse daran habe und geschlussfolgert, dass die Juden dies aus wenig moralischen Interessen heraus täten. Der Nahost-Konflikt ist also ein Mittel, so eine Täter-/Opfer-Umkehr oder eine Aufrechnung zu formulieren.
Tradition, religiöse Klischees, Opferkonkurrenz
tagesschau.de: In anderen Ländern kann die Schuldfrage ja nicht so sehr der Grund für Antisemitismus sein, trotzdem gibt es auch Länder, in denen er stärker auftritt als in Deutschland. Woran liegt das dort?
Bergmann: Das hängt, glaube ich, zum einen mit historischen Traditionen zusammen. In Ländern wie Polen war der Antisemitismus auch zwischen den Weltkriegen und bis nach dem Zweiten Weltkrieg relativ stark verbreitet. Das ist von kommunistischer Seite unterdrückt, aber nicht bekämpft worden. Vor allem auf dem Land bestehen traditionelle und religiöse Vorurteile fort. Dazu kommt auch eine gewisse "Opferkonkurrenz". Es besteht dort der Eindruck, dass die Juden weltweit als Opfer des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts anerkannt sind, während die polnischen Opfer - die ja auch erheblich waren - eigentlich nicht anerkannt werden und Polen selber auch der Vorwurf einer Mitschuld gegeben wird.
Aus solchen historischen Verknüpfungen ergibt sich, dass Antisemitismus noch relativ stark verbreitet ist. Dagegen haben wir in den skandinavischen Ländern oder in den Niederlanden oder auch Großbritannien relativ wenig Antisemitismus gefunden - das war dort aber auch schon vor 1945 so.
Eine Frage der Unter- und Überlegenheit
tagesschau.de: Gibt es eine Vermengung von Rassismus und Antisemitismus?
Bergmann: Ich denke, dass es doch etwas Verschiedenes ist. Die Untersuchungen zeigen, dass die Ablehnung von Zuwanderung, von fremden Gruppen und der Rassismus sich primär auf ein Über- und Unterordnungsverhältnis gründen. Man sieht sich selbst als überlegene Gruppe und andere als weniger wert an. Ungleichwertigkeit ist hier das zentrale Moment.
Gegenüber den Juden besteht eigentlich eher umgekehrt ein Gefühl der Unterlegenheit. Man erkennt ihre Leistungsfähigkeit also durchaus an, sieht das aber als Bedrohung der eigenen Gruppe. Der Rassismus spielt Juden gegenüber nicht eine so zentrale Rolle. Auf der extrem rechten Seite geht das dann wieder zusammen, da spielt auch der Rassismus gegen die "fremde Gruppe" eine wichtige Rolle.
tagesschau.de: Wie haben sich judenfeindliche Einstellungen in Deutschland entwickelt?
Bergmann: Die Umfragen von 1949 zeigen, dass die am besten Gebildeten, die Akademiker, die am stärksten antisemitisch geprägte Gruppe waren, nicht etwa wie heute die am wenigsten Gebildeten. Da gibt es eine völlige Veränderung. Wir haben auch noch immer eine Altersstufung, das heißt, je älter die Leute sind, desto weiter sind antisemitische Einstellungen verbreitet. Das hat sich jetzt in den neuen Bundesländern etwas geändert, dort ist jetzt die jüngere Kohorte etwas stärker geprägt als die nächstältere Generation.
Möglicherweise haben wir seit einigen Jahren zudem den Trend, dass es sich wieder etwas vom rechten Rand zur Mitte ausdehnt, die Nachweise sind meiner Erkenntnis nach noch relativ dünn dafür. Das Ergebnis der Studie wird in diese Richtung interpretiert. Soweit Antisemitismus über Untersuchungen der Einstellung ermittelt wird, ist die Verbreitung des Antisemitismus in Deutschland auf ziemlich gleichem Niveau geblieben. Deutlich angestiegen ist seit einigen Jahren aber die Zahl der registrierten antisemitischen Straftaten sowie die Verbreitung im Internet.
Bei linkem Antisemitismus auf der Handlungsebene unterscheiden
tagesschau.de: Die Judenfeindlichkeit der Rechten ist schon länger bekannt, doch es gab zuletzt eine breite Debatte über einen Antisemitismus der Linken. Sehen Sie da eine Gefahr?
Bergmann: Antisemitismus kommt bei der Linken auch vor. Man kann auch empirisch in Untersuchungen der Einstellung sehen, dass auf der extremen linken Seite die Verbreitung höher ist als im Bereich der linken Mitte, wo sie am niedrigsten ist. Der linke Antisemitismus entzündet sich vor allem im Bereich des Nahostkonflikts, nicht selten verbunden mit antikapitalistischen, teils auch antiamerikanischen Haltungen. Dabei geht es nicht um die - zum Teil berechtigte - Kritik an der israelischen Politik, sondern darum, dass dabei im linksextremen Spektrum auch Klischees verwendet werden, die antisemitische Muster zeigen.
Das ist schon eine Gefahr. Auf der anderen Seite muss man aber sagen, dass sich die politische Linke deutlich gegen den rechten Antisemitismus abgrenzt. Von dieser Seite sind etwa Übergriffe oder judenfeindliche Beleidigungen kaum bekannt.
tagesschau.de: Was kann seitens der Politik und der Gesellschaft gegen Antisemitismus unternommen werden? Oder seitens der Juden in Deutschland?
Bergmann: Der Antisemitismus hat mit Juden und ihrem Verhalten wenig zu tun. Das ist der völlig falsche Ansatz, die Bekämpfung muss aus der Mehrheitsgesellschaft selber kommen.
Was man machen sollte, ist im Antisemitismus-Bericht ja ausführlich dargelegt worden, etwa die erfolgreichen Förderprogramme zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Antisemitismus und zur Stärkung der Zivilgesellschaft herauszugreifen und weiterzuverbreiten und zu entwickeln, statt alle drei Jahre Programme einzustellen und neue zu starten.
Für sinnvoll halte ich zum Beispiel auch die Umsetzung der vorliegenden Schulbuchempfehlungen, sich nicht immer nur auf die Verfolgungsgeschichte der Juden zu konzentrieren. Dadurch entsteht das Bild: "Irgendwas muss an der Gruppe dran sein, wenn sie immer verfolgt wird." Dieses Argument höre ich immer wieder von jungen Leuten. Die Zeiten des normalen Zusammenlebens in der deutsch-jüdischen und der europäisch-jüdischen Geschichte werden so gut wie nicht behandelt. Da ist noch eine Menge Arbeit zu leisten.
Außerdem sollte man auch nicht immer nur "anti" erziehen wollen, sondern stattdessen versuchen, positive Erziehungs- und Bildungsziele zu formulieren und umzusetzen, etwa zivilgesellschaftliche, menschenrechtliche Orientierung zu vermitteln, Verständnis für andere Kulturen und Religionen zu fördern, Kontakte zwischen Gruppen zu ermöglichen. Das ist vermutlich ein guter Weg, Ressentiments abzubauen.
Das Interview führte Johanna Bartels, tagesschau.de.