ARD-DeutschlandTrend Verhältnis zwischen Politik und Bürgern zerrüttet
Das Verhältnis zwischen Politik und Bürgern hat mit dem Streit über "Stuttgart 21" einen weiteren Knacks bekommen: Der ARD-DeutschlandTrend zeigt eine große Proteststimmung in der Bevölkerung. Die meisten Deutschen sehen ihre Interessen bei wichtigen politischen Entscheidungen nicht berücksichtigt.
Von Jörg Schönenborn, WDR
Zerrüttung ist wohl das Wort, das am besten beschreibt, was der neue ARD-DeutschlandTrend über das gegenwärtige Verhältnis von Politikern und Bürgern offenlegt. Weit über seine regionale Bedeutung hinaus beschäftigt das Bahnhofsprojekt in Stuttgart die Deutschen, sie sympathisieren mehrheitlich mit den Demonstranten. Und sie haben darüber hinaus das Gefühl, dass sich die politisch Handelnden von ihrer Lebenswelt abgekoppelt haben. So fordern mit 98 Prozent praktisch alle Befragten: "Die Politik muss wieder stärker den Kontakt zum Volk suchen."
54 Prozent gegen "Stuttgart 21"
Nur ein Drittel der Befragten (33 Prozent) hält den Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs und den Neubau der Strecke Stuttgart-Ulm - Projekte, die gemeinsam unter dem Namen "Stuttgart 21" firmieren - für "im Großen und Ganzen richtig". 54 Prozent sind hingegen der Meinung, das Projekt sei falsch. 11 Prozent geben an, dies nicht beurteilen zu können.
Nun soll der als Schlichter eingesetzte CDU-Politiker Heiner Geißler zwischen den Gegnern und den Befürwortern von "Stuttgart 21" vermitteln. 77 Prozent der Befragten sind dafür, die Bauarbeiten zu unterbrechen, um Gespräche zu ermöglichen.
76 Prozent haben Sympathie für Demonstranten
Die Herzen der meisten Deutschen haben die Demonstranten durch die seit Wochen anhaltenden Proteste und Demonstrationen gewonnen. 76 Prozent geben an, Sympathie für die Menschen zu haben, die gegen "Stuttgart 21" demonstrieren. Umgekehrt ist es nur eine Minderheit, die die Entscheidung von Bundeskanzlerin Angela Merkel gutheißt, sich offen für "Stuttgart 21" einzusetzen: 32 Prozent sehen das so. Die Mehrheit von 59 Prozent findet Merkels Schritt nicht gut.
Und noch deutlicher ist die Ablehnung gegenüber dem Verhalten der baden-württembergischen Polizei, die mit dem Einsatz von Wasserwerfern und Pfefferspray den Fortgang der Bauarbeiten durchgesetzt hatte. Nur 23 Prozent meinen, die Polizei müsse "notfalls hart durchgreifen, damit gebaut werden kann", 71 Prozent sind nicht dieser Ansicht.
Zusätzlicher Knacks für ohnehin labiles Verhältnis
Es gibt viele Indizien dafür, dass diese massive Ablehnung des Stuttgarter Bauprojekts nicht allein mit der Sache selbst zu tun hat. Die große Mehrheit der Deutschen ist in keiner Weise betroffen und normalerweise gibt es Zustimmung, wenn Bund und Land viel Geld für die Modernisierung des öffentlichen Verkehrs einsetzen. Dass das in diesem Fall so grundlegend anders ist, muss mit der politischen Grundstimmung zu tun haben - damit, dass das ohnehin labile Verhältnis von Bürgern und Politik in jüngster Zeit einen zusätzlichen Knacks bekommen hat.
So erklären im ARD-Deutschlandtrend 80 Prozent der Befragten, "wichtige Entscheidungen werden bei uns getroffen, ohne dass die Interessen der Menschen wirklich berücksichtigt werden". Und sogar 85 Prozent sagen, "die meisten Politiker wissen nicht, was im wirklichen Leben los ist".
Fast alle Befragten sehen Proteste als notwendig an
Zugegeben, dass es eine solche Grundstimmung bei vielen Menschen gibt, ist nicht überraschend, das Ausmaß aber sehr wohl. Das gilt erst recht für die Frage, ob es wichtig sei, dass Menschen auf die Straße gehen und demonstrieren, damit die Politik deren Meinung zur Kenntnis nehme. 94 Prozent der Befragten antworten mit "ja". Die Demonstrationsfreiheit ist zwar seit Jahrzehnten im Grundgesetz verankert. Dass aber praktisch die gesamte Bevölkerung der Ansicht ist, die Proteste seien nötig, weil die Politik sonst die Haltung vieler Menschen nicht zur Kenntnis nehme, ist dann doch überraschend.
Grüne erreichen Allzeithoch
Die beschriebene Grundstimmung und vor allem der Protest gegen "Stuttgart 21" nützt naturgemäß derjenigen Partei, die sich als einzige klar gegen das Bauprojekt positioniert hat, den Grünen. Sie erreichen zum ersten Mal überhaupt im ARD-DeutschlandTrend in der aktuellen Sonntagsfrage 20 Prozent und damit ein Allzeithoch.
In einzelnen Bevölkerungsgruppen ist der Anhängeranteil der Grünen sogar noch deutlich höher: 33 Prozent der leitenden Angestellten und Beamten, 28 Prozent der Freiberufler und Selbstständigen und ebenfalls 28 Prozent der Befragten mit höherem Schulabschluss (Abitur, Fachhochschulreife) würden am nächsten Sonntag grün wählen. Die Partei gewinnt damit gegenüber dem Vormonat drei Punkte hinzu.
Im Gegenzug verliert die SPD drei Punkte und steht gegenwärtig bei 27 Prozent. Sie behält damit allerdings einen sicheren Vorsprung vor den Grünen. Stärkste Partei ist weiterhin die Union mit unverändert 32 Prozent. Auch die Anteile der Linken mit 11 Prozent (+ 1) und der FDP mit 5 Prozent (+- 0) haben sich über Wochen kaum verändert.
Nur Hartz-IV-Reform bekommt mehrheitliche Zustimmung
Eigentlich wollte die Bundesregierung seit Ende der Sommerpause mit einem dichten Takt wichtiger politischer Entscheidungen Anhänger zurückgewinnen. Die Entscheidungen hat es gegeben, den erhofften Erfolg aber bisher nicht. Die verschiedenen Kabinettsbeschlüsse, die Kanzlerin Merkel unter dem Schlagwort "Herbst der Entscheidungen" zusammengefasst hat, gehen insgesamt nur für 29 Prozent der Befragten in die richtige Richtung, 63 Prozent sehen das anders. Fragt man nach den einzelnen politischen Beschlüssen sind die Ergebnisse schon sehr viel differenzierter.
Als einziges der abgefragten Projekte stößt die Reform von Hartz IV mehrheitlich auf Zustimmung. Die Entscheidung, den Regelsatz für Erwachsene um fünf Euro zu erhöhen und zusätzliche Bildungs- und Freizeitangebote für Kinder von Hartz IV-Empfängern zu machen, geht für 56 Prozent der Befragten in die "richtige Richtung", für 40 Prozent in die "falsche Richtung".
Mehrheit gegen Energiekonzept der Bundesregierung
Etwas anders sieht es schon beim Energiekonzept der Bundesregierung aus. Den Plan, einerseits die Laufzeiten der Atomkraftwerke um durchschnittlich zwölf Jahre zu verlängern und andererseits den Ausbau der erneuerbaren Energien voranzutreiben, finden 43 Prozent richtig, eine Mehrheit von 52 Prozent aber falsch.
Auf die deutlichste Ablehnung stößt schließlich die geplante Reform der gesetzlichen Krankenversicherung. Hier sollen die Beitragsanteile der Arbeitgeber künftig festgeschrieben werden. Für Kostensteigerungen wären dann allein die Versicherten über Zusatzbeiträge verantwortlich. 80 Prozent lehnen diesen Plan ab, nur 16 Prozent stimmen zu.
48 Prozent heißen eine rot-grüne Koalition gut
Kurz vor der Bundestagswahl im September 2009 war unter den verschiedenen denkbaren Koalitionsmöglichkeiten Schwarz-Gelb die populärste. Ein Jahr später ist Schwarz-Gelb zum Schlusslicht geworden. Nur noch 26 Prozent der Befragten (- 21 Prozent) glauben, dass ein Bündnis aus Union und FDP gut für Deutschland ist. Auf gleichem Niveau wird Schwarz-Grün bewertet (27 Prozent).
Eine große Koalition aus Union und SPD finden - genau wie vor einem Jahr - 42 Prozent gut für das Land. Eine Regierungskoalition aus SPD und Grünen, vor einem Jahr rechnerisch völlig undenkbar, steht jetzt ganz oben und wird von 48 Prozent gutgeheißen.
Steinbrück gewinnt gegen Merkel die Kanzlerfrage
Wie sehr sich die politische Stimmung gewandelt hat, zeigt auch das Ergebnis unserer Direktwahl-Frage. Seit Gerhard Schröder hat es keinen SPD-Politiker mehr gegeben, den die Deutschen bei einer direkten Wahlmöglichkeit der jetzt amtierenden Bundeskanzlerin Angela Merkel vorgezogen hätten. Das ist nun anders: Wenn man zwischen Angela Merkel und Peer Steinbrück den Bundeskanzler oder die Kanzlerin wählen könnte, würden sich 44 Prozent für Steinbrück entscheiden und nur 35 Prozent für Merkel. Anders übrigens, wenn die Paarung Merkel gegen Gabriel hieße, dann läge Merkel mit 44 Prozent vor Gabriel mit 34 Prozent.
Dass nicht jeder Politiker gleich für die Arbeit seiner ganzen Partei in Mithaftung genommen wird, zeigt die Entwicklung der persönlichen Werte für die einzelnen Spitzenpolitiker. Gegen den Trend seiner Partei hat Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg nicht nur den Spitzenplatz behauptet, sondern neun Punkte zugelegt und mit 74 Prozent Zustimmung seinen bisher besten Wert überhaupt erreicht. Ganz offensichtlich honorieren die Befragten hier seinen Kurs, die Bundeswehr zu verkleinern und die Wehrpflicht auszusetzen - und dies auch gegen alle Skeptiker in den Unionsparteien durchgesetzt zu haben.
Schäuble kann auf Unterstützung zählen
Auch Finanzminister Wolfgang Schäuble gewinnt Sympathien. Mit 54 Prozent Zustimmung (+5 Prozent) rangiert er auf Rang zwei. Das stärkt ihn sicher in der aktuellen Rücktrittsdebatte. Die Botschaft der Befragten ist nämlich klar: Wenn Schäuble sich das Amt gesundheitlich zutraut, kann er auf viel Unterstützung zählen. Auf den Plätzen folgen SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier (52 Prozent) und Grünen-Fraktionschefin Renate Künast mit 50 Prozent. Es kommen dann noch Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (49 Prozent), Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin (43 Prozent) und SPD-Chef Sigmar Gabriel (42 Prozent), bevor Kanzlerin Merkel auf Rang acht mit nur noch 41 Prozent Zustimmung auftaucht (-7 Prozent).
Gespalten gegenüber Wulffs Äußerung
In einer in dieser Woche intensiv diskutierten Frage ist das Land gespalten. Bundespräsident Christian Wulff hatte in seiner Rede zum Tag der Deutschen Einheit am Sonntag in Bremen formuliert: Neben dem Christentum und dem Judentum, die unsere Kultur begründet hätten, gehöre inzwischen auch der Islam zu Deutschland. 49 Prozent stimmen Christian Wulff in dieser Frage zu, 47 Prozent lehnen die Äußerung ab. Es gibt allerdings in einzelnen Gruppen unterschiedliche Tendenzen. Im Westen eher Zustimmung, im Osten eher Ablehnung. Deutliche Zustimmungen in den Altersgruppen bis 45, deutliche Ablehnung bei den Älteren. Und je höher Einkommen und Bildung, desto größer die Zustimmung zur These Wulffs, der Islam gehöre zu Deutschland.
Fazit in diesem Monat: Die Grünen erleben eine politische Sonderkonjunktur. Sie werden getragen von einer neuen breiten Proteststimmung, die sich zum Beispiel durch neue Anti-Atomproteste oder die Demonstrationen in Stuttgart Luft macht. Eine Prognose für die Zukunft lässt sich daraus aber nicht ableiten. Die große Zahl der Unzufriedenen steht traditionell den beiden großen Parteien CDU und SPD am nächsten und ist eine Reserve, die man in Wahlkämpfen mobilisieren kann.
Stichprobe: Repräsentative Zufallsauswahl / Randomstichprobe
Erhebungsverfahren: Computergestützte Telefoninterviews (CATI)
Fallzahl:
Sonntagsfrage: 2005 Befragte
Zusatzfrage "Wulff": 1275 Befragte
Alle anderen Fragen: 1005 Befragte
Erhebungszeitraum:
Sonntagsfrage: 04. Oktober bis 06. Oktober 2010
Zusatzfrage "Wulff": 05. Oktober bis 06. Oktober 2010
Alle anderen Fragen: 04. Oktober bis 05. Oktober 2010
Fehlertoleranz:
2005 Befragte: 1,0* bis 2,2** Prozentpunkte
1005 Befragte: 1,4* bis 3,1** Prozentpunkte
1275 Befragte: 1,2* bis 2,8** Prozentpunkte
* bei einem Anteilswert von 5%
** bei einem Anteilswert von 50%