EuGH entscheidet über Sozialleistungen EU-Ausländer und das Recht auf Hartz IV
Darf ein EU-Staat arbeitssuchende EU-Bürger von Sozialleistungen ausschließen? Über diese Frage musste der Europäische Gerichtshof entscheiden. ARD-Rechtsexperte Frank Bräutigam und Christoph Kehlbach erläutern die Hintergründe.
Worum geht es?
Ein wichtiger Grundpfeiler der Europäischen Verträge war schon immer die sogenannte Arbeitnehmerfreizügigkeit - also das Recht der EU-Bürger, in anderen EU-Staaten Arbeit zu suchen und zu finden. 2007 sind Rumänien und Bulgarien der EU beigetreten. Für die ersten sieben Jahre war geregelt, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Richtung Deutschland für diese beiden Länder noch nicht gilt. Seit Anfang 2014 hat sich das geändert. Nun gibt es keine Einschränkungen mehr.
Zum Thema "Arbeitssuche" gehört auch die Folgefrage: Wovon leben, wenn es nicht klappt? Deutschland ist ein Sozialstaat, der verpflichtet ist, für seine Bürger ein Mindestmaß an finanzieller Sorge zu tragen. Mit den sogenannten Hartz-Reformen führte der Bundestag zum 01. Januar 2005 das Arbeitslosengeld II (umgangssprachlich Hartz IV) ein. Es soll die Grundsicherung für Arbeitssuchende gewährleisten. Aber haben nur deutsche Bürgerinnen und Bürger ein Recht auf "Hartz IV", oder gilt das als Folge der EU-Rechts auch für EU-Bürger zum Beispiel aus Rumänien oder Bulgarien? Die Frage ist in der Praxis umstritten.
Was sagt die Statistik?
Laut "Bundesagentur für Arbeit" ist die Zahl der "Hartz IV"-Empfänger aus Rumänien und Bulgarien im Laufe des Jahres 2014 von rund 45.000 auf rund 83.000 gestiegen, also um etwa 85 Prozent. Wichtig ist allerdings auch: Im selben Zeitraum stieg die Zahl der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Rumänen und Bulgaren um fast 80 Prozent. Die Gesamtzahl lag Ende 2014 bei knapp 200.000 Personen.
Was ist das rechtliche Problem?
Im Bundestag bestand die Sorge, dass schlecht ausgebildete Menschen nach Deutschland kommen, nur um Sozialleistungen wie Hartz IV zu beziehen. Darum fügte er 2007 eine Ausschlussklausel in das Sozialgesetzbuch ein. Danach wird Hartz IV nicht gewährt, wenn sich EU-Ausländer ausschließlich zum Zweck der Arbeitssuche in der Bundesrepublik aufhalten.
Diese Vorschrift ist der springende Punkt, denn genau an dieser Stelle prallen deutsches Recht und Europarecht aufeinander. Viele Sozialgerichte im Land haben sich damit beschäftigt, ob der Ausschluss der Sozialleistungen gegen Europarecht verstößt, und sind zu unterschiedlichen Ergebnissen gekommen. Deshalb ist die Thematik über das Bundessozialgericht beim zuständigen Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg gelandet.
Was hat der Europäische Gerichtshof bislang gesagt?
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg hat bereits 2014 entschieden: EU-Bürger dürfen von Sozialleistungen ausgeschlossen werden, wenn sie gar nicht erst vorhaben, nach Arbeit zu suchen. Im konkreten Fall habe Deutschland einer in Leipzig lebenden Rumänin zu Recht Hartz IV verwehrt. Sie hatte sich niemals um Arbeit bemüht. Die Begründung des EuGH: Das EU-Recht erlaube in der "Unionsbürgerrichtlinie" ausdrücklich Ungleichbehandlungen bei der Sozialhilfe. Hartz IV sei wie eine Sozialhilfe zu behandeln, weil es in erster Linie darum gehe, das Existenzminimum zu sichern.
Ist damit jetzt alles klar?
Nein. Der 2014 entschiedene Fall war vergleichsweise einfach, weil die Klägerin ganz offensichtlich nicht nach Arbeit gesucht hatte. In diesen Fällen ist die EU-Unionsbürger-Richtlinie eindeutig. Aber es gibt noch weitere Konstellationen. Wie ist es zum Beispiel mit EU-Bürgern, die sich in Deutschland mit Kurzzeitjobs über Wasser halten, die hier also schon - zumindest zeitweise - gearbeitet haben.
Im aktuellen Fall geht es um eine aus Bosnien stammende Frau, die inzwischen die schwedische Staatsbürgerschaft hat und mit ihren drei Kindern in Deutschland lebt. Die Kinder sind hier zur Welt gekommen. Die Mutter und die älteste Tochter hatten zwischen Sommer 2010 und Frühjahr 2011 immer wieder kurzzeitig gearbeitet. Für einige Monate hatten sie auch Hartz IV erhalten, aber dann griff die deutsche Ausschlussklausel. Der Fall ging vor Gericht.
Was hat der EuGH-Generalanwalt zum aktuellen Fall vorgeschlagen?
In seinem Schlussantrag, einer Art Gutachten für das Gericht, hat der Generalanwalt drei Fälle unterschieden.
Fall 1: Ein EU-Ausländer reist ein, will aber gar nicht arbeiten. Hier sei ein Ausschluss von den Sozialleistungen gerechtfertigt. So hatte es der EuGH schon entschieden.
Fall 2: Ein EU-Ausländer reist ein und sucht Arbeit, hat aber noch keine gefunden. Auch hier ist ein Ausschluss gerechtfertigt.
Fall 3: In dieser Konstellation geht es darum, dass der EU-Bürger nicht nur Arbeit gesucht, sondern auch schon in Deutschland gearbeitet hat. Ein EU-Ausländer reist ein und bleibt hier länger als drei Monate. Er arbeitet kurzzeitig, verliert aber seinen Job vor Ablauf eines Jahres. Dann verstoße es gegen den Gleichheitsgrundsatz, wenn der EU-Bürger automatisch von den Sozialleistungen wie Hartz IV ausgeschlossen werde. Zumindest müsste in diesen Fällen genau geprüft werden, ob der betreffende EU-Bürger eine tatsächliche Verbindung zum aufnehmenden Staat nachweisen kann. Die kurzzeitige Arbeit und die familiäre Situation seien dafür wichtige Kriterien.
Über Fall 3 muss der EuGH jetzt entscheiden. Folgt er dem Generalanwalt, so dürften sich die betroffenen EU-Bürger berechtigte Hoffnungen auf Sozialleistungen machen.
Sollte der EuGH dem folgen - wäre das ein Dammbruch in Sachen "Sozialtourismus"?
Da sollte man vorsichtig sein. Denn für die Situation, dass jemand nach Deutschland zur Arbeitssuche kommt, aber keinen Job gefunden hat, wird im Konzept des Generalanwaltes Hartz IV ja gerade ausgeschlossen. Voraussetzung für einen Anspruch auf Hartz IV-Leistungen wäre danach immer eine "tatsächliche Verbindung" zum Aufnahmestaat. Nur wer eine aktive Arbeitssuche beziehungsweise vergangene Jobs nachweisen kann, hätte eine Chance auf Hartz IV. Übrigens: Die Klägerin im konkreten Fall hat inzwischen wieder Arbeit gefunden.