Interviewserie 60 Jahre Grundgesetz "Eine gemeinsame Verfassung wurde versäumt"
Niemand konnte voraussehen, dass es sich so bewähren würde, lobt die frühere Liberale Hildegard Hamm-Brücher das Grundgesetz. Um so wichtiger wäre es gewesen, sagt sie, 1990 über eine gemeinsame Verfassung für Deutschland abzustimmen. Dieses Versäumnis habe die innere Einheit erschwert.
tagesschau.de: Ist die Geschichte des Grundgesetzes aus ihrer Sicht eine Erfolgsgeschichte?
Hildegard Hamm-Brücher: Das Grundgesetz ist eine große Erfolgsgeschichte, die man nicht voraussehen konnte. Denn die Entstehungsgeschichte war eher mühsam. Fast niemand hat gewusst, was ein Grundgesetz ist, und die Begeisterung war nicht groß.
Hildegard Hamm-Brücher (*1921) gehörte jahrzehntelang zu den führenden Köpfen der FDP. Zwischen 1976 und 1991 saß sie für die Liberalen im Bundestag und gehörte bis 1982 der Bundesregierung als Staatssekretärin im Auswärtigen Amt an. 1994 kandidierte sie für das Amt des Bundespräsidenten. 2002 trat sie aus der FDP aus und warf ihr eine "rechtspopulistische Verengung" vor.
tagesschau.de: Was meinen sie denn genau mit mühsam?
Hamm-Brücher: Mühsam, weil Deutschland noch in vier Zonen geteilt war und weil die westlichen Zonen und die sowjetisch besetzte Zone sich immer weiter auseinander gelebt hatten. Viele Westdeutsche wollten natürlich nicht, dass durch eine eigene Verfassung und einen eigenen westlichen Staat die Teilung Deutschlands zementiert würde - das war ungeheuer mühsam. Das Zweite war, dass die Deutschen nach Krieg und Katastrophen desinteressiert an der Politik waren.
Erfolg für Frauen
tagesschau.de: Was haben die Frauen, die an der Ausarbeitung der Verfassung mitgearbeitet haben, für die Gleichberechtigung erreicht?
Hamm-Brücher: Es war ein großer Erfolg, dass im Grundgesetz anders als in der Weimarer Verfassung, eine uneingeschränkte Gleichberechtigung für Frauen festgeschrieben wurde - und zwar nicht nur in politischen, sondern auch in allen gesellschaftlichen und sozialen Bereichen. Allerdings erst nach einem ziemlich heftigen Streit, weil die Mehrzahl der Männer zunächst noch das Wörtchen "grundsätzlich" vor gleichberechtigt schreiben wollte. Und "grundsätzlich" heißt im juristischen Sprachgebrauch, dass es auch Ausnahmen gibt. Das wollten ein paar entschlossene Frauen nicht mehr. In der dritten Lesung ist das Wort gestrichen worden und hat den Frauen insgesamt dann viele gute Fortschritte gebracht.
tagesschau.de: Wo wurde das Grundgesetz aus Ihrer Sicht in den letzten 60 Jahren bis aufs äußerste strapaziert?
Hamm-Brücher: Es gibt ganz bestimmte Punkte im Grundgesetz, die für unsere Demokratie nicht so glücklich gelaufen sind. Ich denke an den Artikel 38, in dem es heißt: "Der Abgeordnete ist Vertreter des ganzen Volkes. Er ist an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur seinem Gewissen unterworfen" – dass dieser Artikel, ein strenges gutes Gebot, im parlamentarischen Leben mit überwiegendem Fraktionszwang und Befehlsausgaben für Abstimmungen nicht eingehalten wird, das bedaure ich sehr.
In dieser Serie lässt tagesschau.de Menschen zu Wort kommen, deren Geschichte mit der des Grundgesetzes eng verbunden ist. Sie schildern hier ihre ganz persönliche Sicht auf 60 Jahre Verfassungsgeschichte.
tagesschau.de: Sie sprachen gerade von Gebot. Sie haben sich selber zehn Grundgesetz-Gebote aufgeschrieben. Können Sie die Idee erläutern?
Hamm-Brücher: Weil das Grundgesetz ja eine lange, juristische und stellenweise auch langatmige formulierte Verfassung ist, habe ich mir für Diskussionen und auch für mich selber die wichtigsten Gebote aufgeschrieben. Dazu gehört die "Würde des Menschen ist unantastbar", "Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Rasse, seiner Religion benachteiligt oder bevorzugt werden", "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus". In der Gegenwart ist ein Gebot sehr wichtig, das ist der Artikel 14: "Eigentum verpflichtet, es muss am Allgemeinwohl orientiert sein." In der heutigen Finanzkrise, müssen wir dieses Gebot ernster nehmen und auch diskutieren.
"Für eine Abstimmung habe ich gekämpft"
tagesschau.de: Bis zur Wiedervereinigung war das Grundgesetz vorläufig. Hätte man nicht nach 1989 das gemeinsame Grundgesetz dem Volk noch einmal zur Abstimmung vorlegen müssen?
Hamm-Brücher: Für eine Abstimmung habe ich sehr gekämpft. Weil in Artikel 146 des ursprünglichen Grundgesetzes steht, dass es seine Gültigkeit verliert, wenn nach einer friedlichen Vereinigung eine gemeinsame Verfassung geschaffen worden ist - und das ist versäumt worden. Das ist eine der Ursachen, weshalb die innere Vereinigung lange nicht funktioniert hat und immer noch nicht ganz funktioniert. Immer mehr Menschen aus der früheren DDR haben das Gefühl, ihnen sei alles übergestülpt worden.
tagesschau.de: Ist unser Grundgesetz durch das Zusammenwachsen in Europa, durch den Lissabon-Vertrag, in Gefahr?
Hamm-Brücher: Nein. Ich glaube, wenn wir das Grundgesetz in einigen Punkten ein bisschen konkreter und ein bisschen konstruktiver für den Bürger ausüben würden, bestünde keine Gefahr. Der Lissabon-Vertrag ist nötig, weil sonst die ganze Europäische Union zu einer Wirtschaftsorganisation wird, und sie soll politisch zusammenwachsen.
tagesschau.de: Wenn es nach Ihnen ginge, gäbe es Paragraphen bei denen sie etwas hinzufügen, verstärken oder ändern würden?
Hamm-Brücher: Ich würde ganz sicher die Macht der politischen Parteien ein wenig eindämmen und statt dessen die Mitbeteiligung von Bürgern an wichtigen Entscheidungen verstärken. Und ihnen damit die Möglichkeit bieten, selbst einzuwirken. Denn die Verdrossenheit gegen Parteien und Parteipolitiker nimmt zu, es wird weniger gewählt und es gehen weniger Leute in politische Parteien. Das ist ein Alarmzeichen dafür, dass wir das Vertrauen in die Demokratie und die Verfassung unbedingt stärken müssen.
Das Interview führte Priya Palsule-Desai, tagesschau.de