Debatte über Organspende-Kriterium Wann ist ein Mensch hirntot?
Der Hirntod ist die Voraussetzung dafür, dass ein Mensch zum Organspender werden kann. Doch was heißt "Hirntod" eigentlich? tagesschau.de sprach mit der Neurologin Förderreuther und dem Medizinhistoriker Borck über Zweifel an dem Kriterium, seine Entstehung und darüber, ob es schärfere Regeln geben muss.
tagesschau.de: Voraussetzung für eine Organspende ist, dass der Hirntod in einem aufwändigen Verfahren festgestellt wird. In der letzten Zeit wächst aber die Kritik daran, dass er alleiniges Kriterium ist. Reicht der Hirntod aus, damit ein Patient als tot gilt und ihm damit Organe entnommen werden können? Ist ein Hirntoter tot?
Stefanie Förderreuther: Sichere Todeszeichen sind der irreversible Ausfall des Herzens, der Atmung oder des Gehirns. Beim Herz- und Atemstillstand können wir den Tod sofort nachvollziehen, weil der Körper als Leichnam erscheint. Beim isolierten Hirntod ist das nicht so, da die Atmung und die Herz-Kreislauf-Funktion künstlich aufrecht erhalten werden.
Ist der Hirntod festgestellt, ist die Gesamtfunktion des Gehirns unwiederbringlich erloschen. Unsere Persönlichkeit und unser Bewusstsein sind dann verloren. Wir können nichts mehr fühlen, nichts denken, nicht wach sein, schlafen oder träumen. Es gibt dann keine zentrale Steuerung des Organismus als Ganzes mehr, also beispielsweise keine Regulation der Temperatur oder des Wasserhaushalts, kein Atemantrieb, kein Selbsterhaltungstrieb.
Die körperlich geistige Einheit, die ein menschliches Individuum ausmacht, ist mit dem Eintreten des Hirntodes unwiederbringlich zerstört. Das Gehirn ist in seiner Funktion - anders als Herz und Lunge - durch nichts zu ersetzen. Deswegen ist der Hirntod ein besonders sicheres Todeskriterium.
Cornelius Borck: Zunächst einmal muss festgehalten werden, dass die heute verabschiedete Neuregelung der Organspende nichts mit der Feststellung des Hirntods zu tun hat. Die bestehende Regelung wird weltweit angewandt und hat sich in der Praxis bewährt.
Gerade die Etablierung dieser Praxis hat aber in Vergessenheit geraten lassen, dass das Kriterium des Hirntodes erst dafür geschaffen wurde, die Organtransplantation zu ermöglichen: Es sollte eine Regelung gefunden wurden, wie sich jene Fälle sicher diagnostizieren lassen, bei denen zwar noch Organe im Körper am Leben sind, aber das Gehirn bereits so irreversibel geschädigt ist, dass der sichere Tod bevorsteht. Denn die Organtransplantation kann nicht darauf warten, bis das Herz aufhört zu schlagen oder die Atmung sistiert, weil dann die zu entnehmenden Organe bereits geschädigt werden. Deshalb braucht die Organtransplantation ein klares Kriterium des irreversiblen Sterbegeschehens bei noch erhaltenen Organfunktionen.
Jedes Sterben ist ein Prozess, selbst bei einem auf natürliche Weise Gestorbenen bleiben Körperzellen noch einige Zeit am Leben und zum Beispiel die Haare wachsen noch etwas. Die Organtransplantation setzt also voraus, dass wir bereit sind, Menschen für tot zu erklären, obwohl ihr Herz noch schlägt. Gerade die Fortschritte der Forschungen zu menschlichen Hirnfunktionen erinnern uns immer wieder daran, dass die Unterscheidung von lebendig und tot nur in unserer Vorstellungswelt eine eindeutige Dichotomie ist - Sterben aber ein komplexes Geschehen.
tagesschau.de: Was würde eine Verschärfung dieser Kriterien für die dringend benötigten Organspenden in Deutschland bedeuten?
Förderreuther: Die Hirntodfeststellung ist in Deutschland einheitlich geregelt und dadurch sicher. Zwei erfahrene Intensivmediziner prüfen unabhängig voneinander anhand der Krankengeschichte ob eine schwere strukturelle Hirnschädigung vorliegt. Sie weisen durch die Untersuchung den Ausfall aller Hirnfunktionen nach und stellen durch Verlaufsuntersuchungen oder zusätzliche apparative Tests sicher, dass der Ausfall der Gehirnfunktionen irreversibel ist. Bei korrekter Hirntodfeststellung sind keine Fehldiagnosen bekannt geworden. Anders lautende Mitteilungen sind falsch.
Es besteht daher bestimmt keine Notwendigkeit die Kriterien zu verschärfen. Würde man, nur um mehr Anschaulichkeit zu erreichen, die organerhaltende Therapie nach Feststellung des Todes beenden und den Kreislaufstillstand eintreten lassen, würde dies die Organe erheblich schädigen. Wir hätten nicht mehr Sicherheit für den Spender, aber eine Transplantation hätte erheblich geringere Erfolgsaussichten oder wäre gar nicht mehr sinnvoll.
Borck: Der vielfach beklagte Organmangel in Deutschland hat sicher viele verschiedene Gründe, beispielsweise trägt der Fortschritt der Medizin dazu bei, dass diese Therapie-Option immer sicherer und damit häufiger wird. Umgekehrt führt der Mangel an Alternativen heute zu einem Bedarf an Spenderorganen, wo derselbe medizinische Fortschritt in Zukunft die Nachfrage wieder geringer machen könnte.
Ein Faktor in diesem Geflecht mag dabei auch die Wahrnehmung sein, dass der Hirntod eine unsichere Sache sei. Natürlich geht es bei diesem Thema buchstäblich um Leben und Tod, und die Entscheidung darüber mag man nicht einer technisierten Hochleistungsmedizin übertragen, die ohnehin schon oft als übermächtig wahrgenommen wird. Gerade deshalb war der Hirntod als präzises Kriterium formuliert und ein gestuftes Untersuchungsverfahren entwickelt worden.
Hinter dem Ruf nach strengeren Kriterien steht also die Frage nach der gesellschaftlichen Akzeptanz für diese medizinische Praxis: Die heutige Neuregelung der Organspende stellt den Versuch dar, eine neues Gleichgewicht zwischen Spenderorganen und Bedarf herzustellen. Ihr Erfolg wird wesentlich davon abhängen, ob die Neuregelung dazu beiträgt, dass der Hirntod auch im Selbstverständnis des Einzelnen verankert werden kann.
Das Interview führte Fabian Grabowsky, tagesschau.de