Traumatisierte Ukraine-Flüchtlinge Wenn der Krieg im Kopf weitergeht
Immer mehr Kriegsgeflüchtete aus der Ukraine kommen auch in Deutschland an, viele schwer traumatisiert. "Sie erleben unvorstellbares Leid", sagt Trauma-Expertin Ulrike Schmidt. Was heißt das für die Versorgung der Menschen?
tagesschau.de: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine treibt Millionen Menschen in die Flucht, in die Nachbarländer, auch nach Deutschland. Sie haben schreckliche Dinge erlebt und oftmals traumatisierende Kriegs- und Fluchterfahrungen gemacht. Was heißt das für die Versorgung?
Ulrike Schmidt: Ob die Geflüchteten aus der Ukraine schon traumatisiert hier ankommen, hängt auch vom Ausmaß des erlebten Schreckens ab. Es werden sicher Menschen dabei sein, die in den vergangenen zwei Kriegswochen eine Posttraumatische Belastungsstörung, also eine PTBS, entwickelt haben. Andere entwickeln dies erst später oder gar nicht. Oder sie kommen mit einer Akuten Belastungsreaktion ...
tagesschau.de: Was bedeutet das konkret?
Schmidt: Man ist bei einer Akuten Belastungsreaktion für einen kurzen Zeitraum, bis zu 72 Stunden, psychisch total verändert. Entweder sehr unruhig, schlaflos, kaum ansprechbar. Oder aber das andere Extrem: Man spricht gar nicht mehr, bewegt sich kaum noch und zieht sich komplett zurück. Das heißt: Es kommen Geflüchtete hier an, die schon eine Postraumatische Belastungsstörung haben, andere entwickeln sie später, andere leiden an einer Akuten Belastungsreaktion.
Ulrike Schmidt ist Vize-Direktorin an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinkums Bonn. Sie leitet dort einen Trauma-Schwerpunkt. Sie hat vor allem mit Afghanistan-Veteranen und Geflüchteten in verschiedenen Regionen der Welt gearbeitet.
tagesschau.de: Aus der Ukraine flüchten derzeit vor allem Frauen und Kinder. Kriege prägen Kinder oft ein Leben lang. Sind sie daher besonders betroffen?
Schmidt: Kinder und Erwachsene reagieren sehr unterschiedlich auf Kriegserfahrungen. Kleinkinder lernen Angst, spüren die Bedrohung und verändern sich womöglich auch psychisch, aber sie werden kaum über Flashbacks berichten können. Ihre Angstsymptome sind eher unspezifisch. Ältere Kinder können hingegen eine Posttraumatische Belastungsstörung entwickeln. Und wer bereits früher Kriege erlebt hat, kann besonders schlimm betroffen sein. Weil alles wieder aufbricht. Diese Menschen machen zum wiederholten Mal im Leben die Erfahrung, dass man nirgendwo sicher ist. Das ist vergleichsweise schwieriger zu behandeln, aber nicht unmöglich.
Wie ein Film vor dem inneren Auge
tagesschau.de: Wie äußern sich solche Kriegstraumata?
Schmidt: Man muss unterscheiden zwischen Trauma und Traumafolgestörung. Das Trauma ist das Erlebnis, also in diesem Fall das Kriegserlebnis. Daraus kann sich dann die Traumafolgestörung entwickeln. Je länger und intensiver ein Mensch Traumata erlebt hat, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, krank zu werden. Aber irgendwann ist bei jedem Menschen die Schwelle erreicht, krank zu werden. Also etwa eine Posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln
tagesschau.de: Wie äußert sich das?
Schmidt: Vor allem in Flashbacks, also sogenannten Nachhall-Erinnerungen. Dann erleben die Menschen die schlimmsten Momente, etwa die Bombe im Nachbarhaus, ein verletzter Verwandter, Tote immer wieder - wie ein Film, der vor dem inneren Auge wieder und wieder abläuft. Man hat dann das Gefühl, dieses Trauma immer wieder zu durchleben. Das kann auch getriggert werden durch Auslösereize, etwa ein lauter Knall.
tagesschau.de: Welche weiteren Symptome gibt es?
Schmidt: Vermeidungsverhalten. Man vermeidet, an diese Erlebnisse zu denken und versucht, die Flashbacks wegzudrücken. Nicht darüber zu reden. Oder das Gefühl der Gefühllosigkeit. Dann schaltet das Gehirn unbewusst diese Gefühle ab. Weiteres Symptom ist das, was man früher Kriegszittern genannt hat. Die Menschen sind dann sehr schreckhaft, unruhig, übernervös und zittern stark.
Sprachbarrieren überwinden
tagesschau.de: Wie sieht die Erstbetreuung der ukrainischen Kriegsgeflüchteten aus? Wie erkennt man, dass jemand psychologische Hilfe braucht?
Schmidt: Sprechen ist ganz wichtig. Dazu müssen natürlich erstmal Sprachbarrieren überwunden werden. Man braucht Übersetzer. Ist das geklärt, kann man gezielt nach Schlafproblemen, Albträumen, depressiven Verstimmungen, Selbstmordgedanken fragen. Für die psychiatrische Erstversorgung fragt man also verschiedene Symptome ab, identifiziert besonders Betroffene und kann sie dann therapeutisch betreuen.
tagesschau.de: Das klingt sehr gut. Nur: Es gibt schon jetzt viel zu wenig Therapieplätze ...
Schmidt: Das stimmt - leider. Zumal es auch zuerst um die Erstversorgung der Geflüchteten aus der Ukraine geht. Also Unterkunft, Essen, Trinken - und der Frage: Wie geht es weiter und wohin? Die Menschen haben eine Form von Kontrollverlust erlebt und brauchen zunächst erstmal ein Gefühl von Sicherheit.
Geflüchtete aus Kiew warten nach ihrer Ankunft am Münchner Hauptbahnhof in einer Halle mit Feldbetten.
Erfahrungen aus 2015?
tagesschau.de: Auch 2015 kamen viele Flüchtlinge aus Kriegsgebieten wie Syrien und Afghanistan nach Deutschland. Können wir aus den Erfahrungen lernen?
Schmidt: Ja, es gibt Strukturen zur Behandlung traumatisierter Kriegsgeflüchteter, auf die sich jetzt zurückgreifen lässt. Und Erfahrungen, etwa bei der psychotherapeutischen Arbeit gemeinsam mit Dolmetschern. Denn es ist nicht trivial für einen Therapeuten, wenn man den Patienten nicht versteht. Auch was die psychosoziale Erstversorgung betrifft, ist vieles aufgebaut worden. Allerdings dürften diese Angebote angesichts der vielen Menschen, die nun aus der Ukraine fliehen, bald überlastet sein und sollten ausgebaut werden. Was die Menschen dort gerade erleben, ist unvorstellbares Leid, mit unabsehbaren Folgen, auch und gerade für die Kinder.
tagesschau.de: Gibt es Erfahrungswerte, wie hoch der Anteil traumatisierter Menschen unter Kriegsflüchtlingen ist?
Schmidt: Es gibt eine Reihe von Studien. Die Zahlen schwanken aber sehr stark und hängen auch von vielen Faktoren ab. So entwickeln Menschen bei chronischer Belastung nach vielen Kriegsjahren und langen Fluchtwegen, etwa aus Syrien, andere Erkrankungen als etwa beim unmittelbaren Bombardement einer ukrainischen Stadt. Deswegen lassen sich hier kaum vergleichbare Schlüsse ziehen. Sicher ist nur, dass es einen riesigen Bedarf an psychotherapeutischer Hilfe geben wird.
tagesschau.de: Gibt es auch kulturelle Unterschiede? Sie haben ja mit Menschen in unterschiedlichen Gebieten auf der Welt gearbeitet ...
Schmidt: Die Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung oder einer Akuten Belastungsreaktion sind immer die gleichen. Es gibt aber einige kultur-spezifische Bewältigungsmechanismen. So fällt es etwa in bestimmten Kulturen grundsätzlich leichter, über Leid zu sprechen, sich mitzuteilen. Das merkt man sehr schnell, wenn man mit den Menschen arbeitet.
Soziales Netz stärkt und schützt
tagesschau.de: Gibt es auch eine Art Rüstung gegen Kriegstraumata? Stichwort Resilienz.
Schmidt: Jeder Mensch hat einen biologischen Punkt, an dem er Stress, also Trauma nicht mehr bewältigen kann. Wo dieser Punkt liegt, ist biologisch definiert. Manche sind resilienter, manche weniger. Doch man kann sich nicht komplett gegen Traumata schützen - niemand. Jeder von uns ist verwundbar. Wir unterscheiden uns lediglich in der Traumadosis, die wir ertragen können.
tagesschau.de: Aber es gibt auch Schutzfaktoren?
Schmidt: Soziale Unterstützung gehört dazu. Wer ein soziales Netz um sich herum hat, ist erfahrungsgemäß weniger gefährdet für eine Posttraumatische Belastungsstörung. Eine sinnstiftende Tätigkeit schützt außerdem - das kann das Kümmern um ein Kind, einen anderen Menschen, ein Tier sein. Oder ein Job. Beschäftigung und Tagesstruktur sind ganz wichtig und geben Halt, neben familiären Strukturen. Das gilt übrigens nicht nur für Kriegs-Traumatisierte. Das spielte ja auch in der Corona-Krise eine große Rolle. Ohne Aufgabe und soziale Kontakte steigt das Risiko für psychische Erkrankungen.
Das Interview führte Wenke Börnsen, tagesschau.de