Interview

Interview zur Flüchtlingssituation in den Städten "Das System wird kollabieren"

Stand: 21.08.2015 16:57 Uhr

Jeden Tag kommen neue Flüchtlinge in die deutschen Städte. Doch die Unterkünfte sind voll, neue Container schwer zu beschaffen. Die Kommunen stoßen immer öfter an ihre Grenzen. Im Gespräch mit tagesschau.de sagt Bergisch Gladbachs Bürgermeister Lutz Urbach: "Das System wird kollabieren."

tagesschau.de: Was bedeutet die neue Prognose mit 800.000 Flüchtlingen in diesem Jahr für die Stadt Bergisch Gladbach?

Lutz Urbach: Im Sommer 2012 haben wir uns um 104 Menschen aus anderen Ländern gekümmert, wir sind im Moment bei 780. Es kann sein, dass weitere 700 in diesem Jahr dazukommen. Ich habe noch nie eine Situation erlebt, die mich so sehr auch persönlich beansprucht. Ich habe viele Termine gestrichen, um mich auf das Thema zu konzentrieren.

tagesschau.de: Wie sind die 780 Flüchtlinge in Bergisch Gladbach untergebracht?

Urbach: Das ist unterschiedlich. Wir haben vor mehr als einem Jahr ein ehemaliges Verlagsgebäude gekauft und mit Millionenaufwand umgebaut - das sind bis zu 140 Plätze. Als wir das gekauft haben, dachten wir, damit kriegen wir das Thema bewältigt. Heute zeigt sich, das ist nicht so. Wir haben ein Hotel mit ungefähr 50 Plätzen und etwa 30 Privatwohnungen angemietet. Diese Unterkünfte haben gute Standards. Dann haben wir Unterkünfte, die nicht gut sind: Zum Beispiel das ehemalige Arbeitsamt oder eine ehemalige Schule, wo wir in jedem Klassenraum zehn bis zwölf Menschen unterbringen. Seit vier Wochen haben wir außerdem eine Erstaufnahmeeinrichtung.

Zur Person
Lutz Urbach (CDU) ist seit 2009 Bürgermeister von Bergisch Gladbach. Die Stadt in Nordrhein-Westfalen hat gut 109.000 Einwohner. In der Stadt sind derzeit 785 Flüchtlinge untergebracht. 78 davon in einer Erstaufnahmeeinrichtung.

Nur 36 Stunden Zeit

tagesschau.de: Wie wurde diese Erstaufnahmeeinrichtung eingerichtet?

Urbach: Wir haben einen Anruf von der Bezirksregierung bekommen: Wir sollten innerhalb von 36 Stunden eine Erstaufnahmeeinrichtung für zunächst 150 Menschen schaffen. Wir haben es geschafft, 78 Menschen unterzubringen. In einem Telefonat mit der Landesregierung konnten wir deutlich machen, das wir in dieser kurzen Zeit nicht mehr leisten können. Eine Immobilie hatten wir nicht mehr, deswegen nutzen wir dafür eine Schulturnhalle mit Feldbetten. Der erste Bus mit Flüchtlingen kam zwei Tage nach dem Anruf. Das war für uns mit besonderen Anstrengungen verbunden, weil wir erstmals Leute bekamen, die nicht medizinisch gecheckt waren, die nicht registriert waren. Das mussten wir alles fürs Land übernehmen.

tagesschau.de: Fühlten Sie sich dabei vom Land Nordrhein-Westfalen alleingelassen?

Urbach: Ja. Das war eine Zumutung. Das hätte das Land vorher absehen müssen. Wären wir früher informiert gewesen, hätten wir schon einen Stand-by-Betrieb organisiert.

tagesschau.de: 78 Menschen leben seit vier Wochen in dieser Erstaufnahmeeinrichtung. Wie klappt das?

Urbach: Am Anfang hat das sehr gut geklappt. Die Flüchtlinge waren gerade in Deutschland angekommen, sie haben Betten vorgefunden, sie waren erschöpft. Ein junger Mann aus Ghana hat tagelang auf dem Bett gelegen und geweint. Ich habe mit vier jungen Männern aus Aleppo gesprochen, die sagten: "Das Essen ist so gut bei euch, wir fühlen uns wohl." Nach vier Wochen wird das schwieriger. Die Frage ist, wie können wir die Menschen beschäftigen. Viele junge Männer voller Energie sind dabei. Wir versuchen, sie dort in die täglichen Aufgaben wie Saubermachen einzubinden. Aber es ist klar: Dort gibt es Lagerkoller und Konfliktsituationen. Ein Sicherheitsdienst ist rund um die Uhr im Einsatz. Insgesamt ist die Unterbringung dort auf Dauer nicht gut.

Konkurrenz um Container

tagesschau.de: Suchen Sie nach Alternativen?

Urbach: Wir arbeiten Tag und Nacht daran. Aber es wird immer schwieriger. Die Zahl der Immobilien ist begrenzt. Gestern habe ich gesehen, dass ein kleines Hotel in der Stadt zum Verkauf steht. Das habe ich heute mit meinen Fachkollegen besichtigt und dem Makler danach ein Kaufangebot geschickt. Damit wir dort Flüchtlinge unterbringen können. Das ist ein Glücksfall. Außerdem gibt es zu wenig Container. Wir Kommunen stehen im Wettbewerb um die letzten Container. Wenn wir erfahren, dass es noch Container gibt, müssen wir sofort zuschlagen.

tagesschau.de: Bergisch Gladbach ist pleite. Wie hoch sind die Kosten und wie finanzieren Sie die Maßnahmen für die Flüchtlinge?

Urbach: Im Schnitt kostet uns jeder, der zu uns kommt, pro Monat 1000 bis 1200 Euro. 1000 Menschen - das sind dann zwölf Millionen Euro im Jahr. Da reden wir nicht mehr über Haushaltsausgleich. Das Land Nordrhein-Westfalen übernimmt nur etwa 30 Prozent der Kosten. Der Rest bleibt an uns hängen. Anders ist es bei der Erstaufnahmeeinrichtung. Diese Kosten übernimmt das Land. Über die Personalkosten dort für die Stadt müssen wir noch verhandeln.

Mehr Personal eingestellt

tagesschau.de: Müssen Sie auch mehr Personal einstellen?

Urbach: Wir haben mehrere Hausmeister und Sozialarbeiter eingestellt und auch in der Verwaltung Stellen geschaffen, weil die Flüchtlinge Leistungen bekommen. Ihr Taschengeld muss ausgezahlt werden. Wir haben außerdem eine Kollegin, die ausschließlich damit beschäftigt ist, Hilfsangebote zu koordinieren.

tagesschau.de: Wie schwierig ist es, Hilfe zu koordinieren?

Urbach: Da haben wir einiges lernen müssen: Zum Beispiel, dass wir keine Parallelstrukturen aufbauen müssen. Es gibt schon Kleiderkammern, da müssen wir keine neuen aufbauen. Ein ehemaliger Schulleiter koordiniert Sprachkurse mit aktiven und pensionierten Lehrerinnen und Lehrern. Manchmal ist es auch eine Herausforderung, Hilfe abzulehnen. Insgesamt will die Bevölkerung sehr, sehr viel helfen. Das ist beeindruckend.

tagesschau.de: Wie wird es weitergehen?

Urbach: Die Zahl der Flüchtlinge, die kommen, steigt jede Woche weiter. Insgesamt wird dieses System kollabieren. Erste Kommunen werden es irgendwann nicht mehr schaffen. Dann wird der Bund in Zugzwang kommen. Er kann dann nicht mehr auf der Zuschauerbank sitzen. Der Bund muss sich stärker an den Kosten beteiligen und auch konkret in die Pflicht genommen werden. Wir Kommunen kommen an unsere Grenze. Irgendwann müssen wir sagen, wir können nicht mehr.

Das Interview führte Barbara Schmickler, tagesschau.de.