Politiker in sozialen Netzwerken 70.000 im Netz = 70.000 auf der Straße
Deutsche Politiker verstehen oft nicht, wie sie in sozialen Netzwerken punkten können. Vor der heute beginnenden Social Media Week sprach tagesschau.de mit dem Experten Martin Fuchs über das Vorbild Obama, die Chance von Online-Petitionen und den Weg zu Posting-Erfolgen.
tagesschau.de: Sie beobachten den Auftritt von Politikern in sozialen Netzwerken. Ist der nicht oft schmerzensgeldverdächtig?
Martin Fuchs: Ja, es ist oft gähnend langweilig. Ich kann verstehen, warum viele Politiker in den sozialen Netzwerken nicht erfolgreich sind. Es hat Null Sexappeal für die Bürger, sich damit zu beschäftigten.
tagesschau.de: Welchen Eindruck haben Sie von den Politikern in den sozialen Netzwerken?
Fuchs: Es wird deutlich, dass sie ihre Politik nicht für soziale Netzwerke aufbereiten. Die Politiker bedienen eine Medienlogik, die schon lange erprobt ist: Sie schreiben eine Pressemitteilung und spielen diese auch in den sozialen Netzwerken aus. Der Journalist interessiert sich vielleicht dafür, aber der Bürger nicht. Dem Bürger macht es keinen Spaß, wenn er sich ein dreiseitiges pdf-Dokument durchlesen muss. Politische Inhalte müssen in sozialen Netzwerken auch für diese aufbereitet werden. Politiker denken aber oft nicht an Nutzer und Wähler, sondern schauen nur, wie es einfach und schnell geht.
tagesschau.de: Es gibt also ein Bedürfnis der Politiker, in den sozialen Netzwerken stattzufinden?
Fuchs: Ja, auf jeden Fall. Die Politik hat verstanden, dass zum Beispiel Facebook mit allein 28 Millionen Nutzern in Deutschland eine Relevanz besitzt. Best-Practice-Beispiele zeigen, dass man mit einem einzigen Posting mehrere Millionen Menschen direkt und ungefiltert mit seinen Positionen erreichen kann.
tagesschau.de: Haben Sie ein Beispiel?
Fuchs: Cem Özdemir von den Grünen hat vor Weihnachten bei Facebook und Twitter ein Foto veröffentlicht, das knapp 50.000 Menschen geteilt, retweetet oder favorisiert haben. Damit hat er weit über zwei Millionen Bürger erreicht. Das funktioniert nicht immer, aber man kann neben den klassischen Medien über soziale Netzwerke Agenda Setting betreiben und Diskussionen anregen. Politiker wie CDU-Generalsekretär Peter Tauber oder Familienministerin Manuela Schwesig von der SPD posten einfach zwischendurch - so wie es sein soll. Ein Politiker, der Social Media verstanden hat und es nebenbei ganz natürlich nutzt, braucht an einem normalen Tag insgesamt vielleicht eine halbe Stunde.
Facebook, Twitter, Youtube
tagesschau.de: Welche Plattformen sind bei den Politikern besonders beliebt?
Fuchs: Mit Abstand Facebook. Da sind die meisten Deutschen Mitglied. 92 Prozent der Bundestagsabgeordneten nutzen Facebook - also sehr viele. Als zweites kommt Twitter. Im Bundestag nutzen dies mehr als 50 Prozent. An dritter Stelle steht Youtube und auch da sind einige Politiker aktiv, auch wenn viele es bisher leider schlecht nutzen. Meistens werden dort nur Reden eines Politikers, die kaum geklickt werden, hochgeladen. Viral werden dann vor allem Versprecher von Politikern.
tagesschau.de: Wie sollte die Kommunikation dann im Idealfall aussehen?
Fuchs: Man sollte keinen Unterschied zwischen online und offline merken. Wenn ein Politiker offline in eine Sitzung geht oder Bürger trifft, dann sollte das, wenn es wichtig ist, parallel direkt in den sozialen Netzwerken gepostet werden. Am besten mit Fotos oder Videos aus der Sicht des Politikers. Wären die Politiker in den sozialen Netzwerken selbstkritischer, würden sie zudem nahbarer erscheinen. Außerdem sollten Politiker stärker Politik erklären - auch wenn das nicht immer sexy ist. Denn was für Politiker Alltag ist, ist für die Bürger nicht unbedingt selbstverständlich.
Online-Petitionen? "Nicht nachhaltig"
tagesschau.de: Eine weitere Möglichkeit, um Diskussionen zu beginnen, sind Online-Petitionen. Die Bloggerin Mary Scherpe hat über Social Media Unterstützer für eine Online-Petition zur Stalking-Gesetzgebung gestartet und wurde prompt von Justizminister Heiko Maas eingeladen, der sich nun den betroffenen Paragrafen genauer anschauen will. Wie bewerten Sie diese Möglichkeit?
Fuchs: Online-Petitionen sind ein gutes Mittel, um Themen, die nicht in der öffentlichen Wahrnehmung stehen, bekannt zu machen. Das Beispiel von Mary Scherpe war erfolgreich. Ich gehe aber davon aus, dass Heiko Maas das Thema sowieso auf der Agenda hatte. Er hat ein gutes Gespür für den digitalen Raum und für ihn war es günstig, dass das Thema von der Öffentlichkeit aufgeworfen wurde und er sich darum kümmern konnte. Wenn man sich allerdings Petitionsplattformen wie change.org ansieht, ist die Wirkung in der Politik relativ gering und nicht nachhaltig. Wenn ich ein cleverer Politiker wäre, dann würde ich gucken, welche Themen auf den Petitionsplattformen diskutiert werden. Aber die Politik hat noch nicht verstanden, dass 70.000 Menschen im Netz genauso viel wert sind wie 70.000 Menschen auf der Straße.
Einbahnstraße im Netz?
tagesschau.de: Sie sagen, Politiker nehmen den Bürger in diesem Fall nicht ernst genug. Ist Kommunikation in den sozialen Netzwerken eine Einbahnstraße?
Fuchs: Nein. Das Potenzial von sozialen Medien ist, dass sie Dialogmedien sind. Die FDP-Politikerin Katja Suding hat im Hamburger Wahlkampf eine Bürgersprechstunde bei Facebook abgehalten. Damit hat sie in einer halben Stunde 9000 User aus ganz Deutschland erreicht. Leider gibt es kaum Politiker, die den Dialog nutzen. Die meisten antworten noch nicht einmal auf direkte Fragen. Das ist demotivierend.
tagesschau.de: Werden die sozialen Medien dann doch überschätzt?
Fuchs: Es gab einen großen Hype um die sozialen Medien. Das lag auch an dem Wahlkampf von Barack Obama, der in Deutschland so dargestellt wurde, dass jeder, der Social Media nutzt, ein Obama wird. Das ist Quatsch. Damit wurde in der Politik eine Erwartungshaltung produziert, die nicht erfüllt werden kann. Die Politiker, die jeden Tag in ihrem Wahlkreis an verschiedenen Stellen direktes Feedback bekommen und dadurch mit Multiplikatoren und Wählern analog vernetzt sind, brauchen keine sozialen Medien. Aber viele Politiker in Deutschland unterschätzen das Potenzial, das darin liegt. Sie müssten Ressourcen freischaufeln und Arbeit reinstecken.
Das Interview führte Barbara Schmickler, tagesschau.de