Debatte um Flüchtlinge in Deutschland "Einseitige Obergrenzen wird es nicht geben"
Dass Deutschland den Flüchtlingsstrom begrenzen muss, ist politisch kaum umstritten. Eine Möglichkeit: Kontingente, eine andere: Obergrenzen. Das ist eine Frage der Definition, meint Tina Hassel, Chefin des ARD-Hauptstadtstudios, im Gespräch mit tagesschau.de. Kontingente, richtig ausgehandelt, könnten eine gesichtswahrende Lösung für die verhärtete politische Situation sein und für die Kanzlerin ein gesichtswahrender Ausweg aus dem Streit mit Teilen der Union.
tagesschau.de: Die CSU hat bisher immer Obergrenzen für Flüchtlinge gefordert. Kanzlerin Angela Merkel lehnt dies ab - genauso wie der Koalitionspartner SPD. Nun taucht der Begriff "Kontingent" vermehrt in der Debatte auf. Inwieweit unterscheidet sich das Kontingent für Flüchtlinge von der Obergrenze?
Tina Hassel: Eine Obergrenze legt eine klare Zahl fest. Die Frage ist, was passiert mit denen, die kommen, wenn die Obergrenze ausgeschöpft ist. Die Antwort bleibt sehr schwammig. Das ist der Unterschied zum Kontingent. Ein Kontingent ist ein flexiblerer Prozess, der ausgehandelt wird, aber auch nachjustiert werden kann. Das betont auch Kanzlerin Angela Merkel.
tagesschau.de: Heißt das, mit Kontingenten könnten alle hier in Europa Zuflucht finden?
Hassel: Es kommt darauf an, wie man Kontingent definiert. Die Kanzlerin, SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann oder Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel - sie alle plädieren für ein europäisch verhandeltes Kontingent. Das würde eine Begrenzung bedeuten. Damit könnte man europäische Länder, die sich bislang verweigern, dazu bringen, sich an der Lastenverteilung zu beteiligen. Sie haben im Zweifel kein Interesse daran, die Solidargemeinschaft Europa völlig scheitern zu lassen. Ein Kontingent, das national festgelegt würde, wäre wie eine Art Obergrenze.
tagesschau.de: Also eine rein semantische Begriffskorrektur?
Hassel: Ja. Deshalb wird es dazu nicht kommen. Denn dann müsste man fragen, was mit denen passiert, die wir nicht nehmen können. Schiebt man sie dann wieder über die deutsch-österreichische Grenze, dann weiter nach Slowenien und so weiter? Dann sind wir bei der Kettenreaktion, die Europa sprengen würde und die unzumutbar für die Flüchtlinge wäre. Genau deswegen ist es problematisch, von Zahlen zu sprechen und darüber, was passiert, wenn das Kontingent erschöpft ist. Wichtig in dieser Diskussion ist: Das sind Kontingente, die wir aus der Türkei übernehmen. Davon unbenommen ist das Recht auf Asyl. Das kennt bekanntlich keine Obergrenze. Und das sagt auch die Kanzlerin. Andere sind da schwammiger.
tagesschau.de: Wo genau?
Hassel: Es gibt die Kanzlerin, die SPD und die Grünen, die sagen, Asyl darf keine Obergrenze haben. Artikel 16a und das Asylrecht sollten nicht von Grenzen betroffen sein, die wir mit einem Kontingent festlegen. Es gibt andere Parteien und Politiker, die diesem Punkt nicht so klar folgen oder die die Außengrenzen so dicht machen wollen, dass de facto kein Asylsuchender mehr nach Deutschland gelangt. Dann hebelt man Artikel 16a aus, ohne das Grundgesetz ändern zu müssen.
"Ist das Kontingent erschöpft, bleibt die Tür zu"
tagesschau.de: Flexible Kontingente einzurichten, ist ein Vorschlag von SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann. Steht der im Widerspruch zu Innenminister Thomas de Maizière, der gesagt hat, Kontingent bedeutet auch Begrenzung?
Hassel: Die einen - etwa die Kanzlerin und Oppermann - sagen, man muss Kontingente flexibel angleichen. Wenn der Erste über dem Kontingent kommt, muss das Kontingent nachverhandelt werden. Gegner von Merkels Linie sagen, Kontingent ist de facto nur ein anderer Begriff für Obergrenze - ist es erschöpft, bleibt die Tür zu.
tagesschau.de: Da zeigt sich der Konflikt in der Großen Koalition. Wo verläuft genau die Konfliktlinie?
Hassel: Die Konfliktlinie läuft zum einen zwischen denen, die auf der Position der Kanzlerin sind. Die sagen, das ist ein Prozess, den wir nur sehr bedingt steuern können. Eine Lösung kann nur international und mittelfristig sein. Dazu zählt die Bekämpfung der Fluchtursachen und dass die Türkei mit an Bord kommt und Teil der Lösung wird. Dann gibt es die, die sagen, das dauere zu lang. Wir schafften das bis dahin nicht. Dieses Land drehe sich in eine Richtung, die wir nicht wollen - mit rechten Kräften, die immer stärker werden. Sie fordern sehr schnelle Maßnahmen. Das ist der Grundkonflikt.
"Wie viel Geduld haben wir?"
tagesschau.de: In Deutschland stemmt sich Kanzlerin Angela Merkel klar gegen die Obergrenze. CSU-Chef Horst Seehofer will diese Obergrenze aber vehement.
Hassel: Das, was Seehofer will, wird auch von vielen in der CDU geteilt. Wenn der Leitantrag, den die CSU gerade abgestimmt hat, auf dem CDU-Parteitag abgestimmt würde, fände er vermutlich viel Zustimmung. Seehofer und andere wollen ein Symbol, eine Botschaft. Sie wollen das Gegensymbol zum Selfie. Es soll sich schnell herumsprechen: Ihr kommt hierhin und seid nur bedingt willkommen. Darum geht es ihnen. Die Frage ist: Wie viel Geduld haben wir für Lösungen, die wirklich Lösungen sind, oder wie nervös werden wir angesichts der jetzigen Diskussion, um schnell Symbolpolitik zu machen?
tagesschau.de: Als Merkel das Selfie mit einem Flüchtling gemacht hat, waren viele für die Willkommenskultur dankbar. Hat sich das geändert? Wie isoliert ist die Kanzlerin?
Hassel: Der Ansatz von Merkel wird vom Koalitionspartner SPD und von den Grünen unterstützt. In ihrer eigenen Partei steht inzwischen nur noch eine Minderheit dahinter. Die Kanzlerin ist fast zehn Jahre lang mit dem Zeitgeist mitgegangen, hat in der Flüchtlingspolitik den Mainstream verlassen und ist in ihren eigenen Reihen relativ isoliert.
tagesschau.de: Ist denn in der Union und der Großen Koalition insgesamt eine gemeinsame Lösung absehbar?
Hassel: Den Verantwortlichen ist klar, dass es ein Symbol der Einigkeit geben muss. Die Regierung muss wieder Handlungsfähigkeit zeigen. Zerstrittenheit hilft nur den rechten Kräften und stärkt die AfD. Dass man begrenzen will, ist politisch unumstritten. Kontingente könnten eine gesichtswahrende Lösung sein. Die Frage ist, ob das den Menschen in den Kommunen, in den Ländern, wo die Probleme sind, reicht. Wie schnell bekommen wir Lösungen und wie ehrlich bereiten wir die Menschen darauf vor, dass Lösungen vielleicht doch nicht so schnell kommen. Das wird die Diskussion der nächsten Wochen sein.
Das Interview führte Barbara Schmickler, tagesschau.de.