Tochter eines der Opfer der Mordserie der terroristischen Vereinigung "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) bei der Gedenkfeier
Interview

Opferangehörige über NSU-Verbrechen "Man möchte etwas vertuschen"

Stand: 08.03.2013 09:18 Uhr

Während die juristische Aufarbeitung der rechtsextremen Taten läuft, haben die Hinterbliebenen der NSU-Opfer immer noch viele Fragen. Im Interview mit Matthias Deiß spricht Semiya Simsek über ihr Buch "Schmerzliche Heimat", die Zeit der Ungewissheit, ihre Wut auf die Behörden, eine große Geste der Kanzlerin und einen Verdacht.

tagesschau.de: Sie bezeichnen Ihr Buch selbst als "Kotzeimer". Warum?

Semiya Simsek: Es war sehr schwer für mich, dieses Buch zu schreiben und mich mit meinen Erinnerungen und den Akten zu beschäftigen. Ich habe alles aufgeschrieben, was mir auf dem Herzen lag. Danach habe ich mich wohler gefühlt. Das Buch war wie eine Therapie für mich.

Tochter eines der Opfer der Mordserie der terroristischen Vereinigung "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) bei der Gedenkfeier
Zur Person

Semiya Simsek ist die Tochter des von NSU-Rechtsterroristen ermordeten Enver Simsek. In ihrem Buch "Schmerzliche Heimat. Deutschland und der Mord an meinem Vater" schreibt sie über ihre Erfahrungen mit den Behörden und wie ihre Familie mit der Ungewissheit umging.

tagesschau.de: Sie schreiben darin, es habe Ihnen auch geholfen aus der Opferrolle herauszukommen. Wie meinen Sie das?

Simsek: Wir durften ja all die Jahre nach der Ermordung meines Vaters keine Opfer sein. Durch die ständigen Mutmaßungen der Polizei, mein Vater habe mit Drogen gehandelt und sei deshalb ermordet worden, mussten wir uns immer fragen: War unser Vater wirklich ein Krimineller? Es wurde uns vermittelt, dass er wirklich etwas Schlimmes, etwas Kriminelles getan hat. Als herauskam, dass dies nicht stimmt, sondern Neonazis für die Tat verantwortlich sind, war das eine sehr große Erleichterung. Erst danach waren wir wirklich Opfer. Ich habe aber festgestellt: Auf Dauer passt die Opferrolle nicht zu meinem Charakter. Ich bin eher der kämpferische Typ.

tagesschau.de: Ihre Mutter wurde von der Polizei immer wieder stundenlang verhört, brach im Vernehmungsraum sogar zusammen. Was fühlen Sie, wenn Sie lesen, wie die Ermittler mit Ihrer Mutter umgegangen sind?

Simsek: Ich werde wütend. Ich konnte meine Mutter lange nicht verstehen. Erst als ich die Ermittlungsakten las, begriff ich, was man ihr angetan hat. Heute habe ich sehr großen Respekt vor ihr und dem, was sie durchstehen musste.

tagesschau.de: Wie geht es Ihrer Mutter jetzt? Wirken die Erlebnisse noch nach?

Simsek: Natürlich. Immer, wenn von den Ermittlungen zur Ermordung meines Vaters die Rede ist, ist der Tag für sie gelaufen. Der Druck und die Atmosphäre während der Vernehmungen waren wirklich schlimm für sie.

Erst verdächtigt, dann abgehört

tagesschau.de: Ihre Familie wurde abgehört, weil die Ermittler vermuteten, dass sie etwas verschweigen...

Simsek: Das stimmt. Dabei haben wir nichts verschwiegen. Man sieht daran, dass man uns nicht geglaubt hat und wie groß die Vorurteile waren. Die Ermittler haben fest daran geglaubt, dass mein Vater ein Krimineller war. Deshalb haben sie tatsächlich unser Auto verwanzt.

tagesschau.de: Würden Sie heute sagen, dass die Ermittlungsbehörden auf dem rechten Auge blind waren?

Simsek: Immer wenn wir gebeten haben: Ermitteln Sie doch auch mal in Richtung Ausländerfeindlichkeit, hieß es: 'Nein, wir verfolgen bereits eine heiße Spur.' Und woher wir eigentlich wüssten, dass unser Vater keine dunkle Seite hatte, die er der Familie nicht zeigen wollte?

tagesschau.de: Die Polizei hat sich bis heute nicht bei Ihnen entschuldigt. Die Kanzlerin dagegen schon. Es gab eine Gedenkstunde der Bundesregierung für die NSU-Opfer und zwei Treffen der Hinterbliebenen beim Bundespräsidenten. Immer wieder wurde Ihnen dabei Aufklärung versprochen. Hat es die gegeben?

Simsek: Dass Frau Merkel sich entschuldigt hat, war eine große Geste. Aber wenn ich danach höre, dass Akten vernichtet werden, frage ich mich schon: Was soll das? Das ist ein klarer Widerspruch.

tagesschau.de: Was ist da Ihrer Meinung nach passiert?

Simsek: Ich kann es natürlich nicht beweisen, aber ich denke schon: Man möchte etwas vertuschen. Warum sollte man sonst Akten vernichten? Das hätte nie passieren dürfen. Ich erwarte immer noch, dass alles aufgeklärt wird.

"Es wäre schön, wenn uns der Ausschuss einladen würde"

tagesschau.de: Es gibt einen Untersuchungsausschuss, in dem Abgeordnete des Bundestags an eben dieser Aufklärung arbeiten und die Behörden unter Druck setzen. Wie beurteilen Sie die Arbeit des Untersuchungsausschusses?

Simsek: Die Mitglieder im Untersuchungsausschuss versuchen tatsächlich, Pannen aufzudecken. Allerdings würde ich mir wünschen, dass uns die Abgeordneten einmal einladen würden, um sich mit uns zu unterhalten. Es wäre schön, von Ihnen zu erfahren, was Stand der Dinge ist.

tagesschau.de: Sie klingen heute sehr gefasst, wenn Sie über all das sprechen. Ist die Wut von einst verflogen?

Simsek: Nein, die Wut ist nicht verflogen. Aber ich erlaube mir keine Hassgefühle, denn damit würde ich mir selbst schaden. Wir haben schon genug gelitten.

tagesschau.de: Können Sie mit dem Buch das Kapitel Vergangenheit jetzt abschließen und in die Zukunft schauen?

Simsek: Nein, noch nicht ganz. Das Buch ist kein Abschluss, das kann erst der Gerichtsprozess gegen Beate Zschäpe sein, in dem wir als Nebenkläger auftreten.

tagesschau.de: Warum ist das für Sie so wichtig?

Simsek: Ich weiß, dass der Prozess unsere ganze Familie viel Kraft kosten wird. Aber wir haben so viele offene Fragen, die wir seit Jahren mit uns herumschleppen: Warum ausgerechnet mein Vater? Kannten die Täter ihn? Wurden die Opfer bewusst ausgesucht? Hat man sich Gedanken gemacht, ob er Familie hat oder nicht? Und wie konnten die Terroristen jahrelang unentdeckt in Deutschland leben? Gab es noch andere Helfershelfer? Auf diese Fragen möchten wir Antworten. Und wir wollen diesen Prozess beeinflussen können, aktiv sein und Frau Zschäpe gegenübertreten.

tagesschau.de: In dem Buch schreiben Sie: "Heute quäle ich mich mit der Frage: Bin ich in Deutschland zuhause?" Sie sind in die Türkei gezogen. Ist die Frage damit beantwortet?  

Simsek: Nein, das ist sie ganz sicher nicht. Ich bin in Deutschland geboren, aufgewachsen und hier verwurzelt. Deutschland ist meine Heimat und wird es auch bleiben. Ich bin in die Türkei gegangen, weil ich meinen Mann dort kennengelernt habe und Ruhe brauchte, nicht weil Deutschland nicht mehr meine Heimat ist. Natürlich habe ich mir die Frage gestellt: Wie stehe ich zu diesem Land, gehöre ich noch dazu? Und um diese Fragen beantworten zu können, musste ich einfach aus Deutschland weg.

Das Interview führte Matthias Deiß, ARD-Hauptstadtstudio

Das Interview führte Matthias Deiß, ARD Berlin