Sozialforscher zu erwarteter Rentensteigerung "Die Prognosen sind wenig realistisch"
Die Prognosen zu den Rentensteigerungen klingen fast schon paradiesisch. "Die Zahlen sehen auf den ersten Blick gut aus, sind aber wenig realistisch", sagt der Sozialforscher Christoph Butterwegge gegenüber tagesschau.de. Wenn die Konjunktur einbreche, bleibe von den Zuwächsen nicht viel übrig.
tagesschau.de: Die Bundesregierung geht davon aus, dass die Renten bis Ende 2016 im Westen um gut 8,5 Prozent steigen, im Osten sogar um gut 11,5 Prozent. Müssen wir uns jetzt doch keine Sorgen mehr um unsere Rente machen?
Christoph Butterwegge: Leider bleibt uns das nicht erspart. So gut die veröffentlichten Zahlen auf den ersten Blick aussehen, wenn man sie in Beziehung zu den Preissteigerungen und zu den Produktivitätszuwächsen der Wirtschaft setzt, ergeben sich für die alten Menschen keineswegs paradiesische Verhältnisse. Nach mehreren Nullrunden - wegen der Preissteigerungen waren das eigentlich Minusrunden - handelt es sich ja höchstens um eine Kompensation für die Kaufkraftverluste früherer Jahre. Der Lebensstandard der Arbeitnehmer wie der Rentner ist tendenziell gesunken. Noch mehr gilt das für die Neuzugänge bei den Rentnern, denn sie bekommen die seit der Jahrtausendwende eingeführten Dämpfungsfaktoren Riester-Treppe, Nachhaltigkeitsfaktor und Nachholfaktor besonders zu spüren. Man kann sich jetzt also nicht zurücklehnen und sagen, das Thema Altersarmut sei damit vom Tisch.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge ist Direktor des Instituts für Vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln. Seit Jahren beschäftigt er sich mit den Themen Armut und Sozialstaat. Gerade ist von ihm das Buch "Armut im Alter - Probleme und Perspektiven der sozialen Sicherung" erschienen.
tagesschau.de: Aber eine dauerhafte Rentensteigerung von rund 2,4 Prozent pro Jahr ist doch im Vergleich zu den vergangenen Jahren schon paradiesisch?
Butterwegge: Nein, überhaupt nicht. Die dabei nicht berücksichtigte Inflationsrate dürfte 2013 mindestens 2 Prozent betragen. Da ist eine Rentensteigerung im Westen um 1 Prozent kein Ruhmesblatt der Regierungspolitik. Und wenn man berücksichtigt, dass die Eurokrise höhere Inflationsgefahren in sich birgt, bedeuten selbst vergleichsweise hohe Rentensteigerungen keinen sicheren Ausgleich. Vor allem, wenn man bedenkt, was alte Menschen vor allem brauchen und zahlen: Energie, Mieten und medizinische Leistungen, die in Zukunft stärker ins Gewicht fallen dürften, zumal die Krankenkassen immer weniger bezahlen.
Unter Berücksichtigung der Preissteigerungen sind weitere Kaufkraftverluste nicht ausgeschlossen. Erst recht gibt es kaum Zuwächse. Der wachsende gesellschaftliche Reichtum und die Produktivitätszuwächse müssten sich in höheren Löhnen und Renten ausdrücken. Das tun sie aber nicht. Jahrzehntelang hatte die Dynamisierung der Rente zur Folge, dass sich der steigende Lebensstandard als gerechter Lohn für die Lebensleistung der Arbeitnehmer in höheren Renten niederschlug. Das ist jetzt vorbei. In früheren Jahrzehnten waren die Rentensteigerungen deutlich höher als die Preissteigerungen.
Westen | Osten | |
---|---|---|
2013 | 1 | 3,49 |
2014 | 2,33 | 2,4 |
2015 | 2,55 | 2,65 |
2016 | 2,39 | 2,47 |
"Altersarmut ist kein Schreckgespenst, sondern Realität"
tagesschau.de: Auch heute sind die Rentner also schon benachteiligt?
Butterwegge: Schon jetzt beziehen mehr als 436.000 Menschen über 64 Jahre die Grundsicherung im Alter. Das heißt, sie leben von rund 700 Euro. Die Bundesregierung beschwichtigt zwar, indem sie vorrechnet, das seien nur 2,6 Prozent aller Personen dieser Altersgruppe. Aber es ist ein offenes Geheimnis, dass sich gerade ältere Menschen scheuen, zum Amt zu gehen und die Grundsicherung zu beantragen. Oft wissen sie auch gar nicht, dass es diese Leistung gibt oder dass sie ihnen zusteht. Die Dunkelziffer beträgt über 60 Prozent, so dass über eine Million Menschen insgesamt auf einem so niedrigen Niveau leben. Hinzu kommt, dass mehr als 760.000 Menschen über 64 einen Minijob haben, fast 120.000 davon sind 75 Jahre und älter. Altersarmut ist also kein Schreckgespenst oder ein bloßes Zukunftsproblem, sondern längst bedrückende Realität.
"Zahlen sind zweckoptimistisch, aber wenig realistisch"
tagesschau.de: Wie seriös ist eine solche Schätzung für einen Zeitraum von vier Jahren überhaupt?
Butterwegge: Die zitierten Modellrechnungen des Rentenversicherungsberichts sind ausgesprochen zweckoptimistisch, aber wenig realistisch. Es ist falsch, sich auf die positiven Annahmen zu stützen und zu stürzen. Denn die Deutschen leben nicht auf einer Insel der Seligen. Die Folgen der Banken-, Finanz- und Währungskrise in Europa werden uns zwar mit Verspätung, möglicherweise dafür aber umso heftiger erreichen. Wenn die Konjunktur einbricht, wird es mehr Arbeitslose geben, Lohn- bzw. Gehaltssteigerungen werden nicht so gut wie zuletzt sein und auch die Renten werden dann nicht so stark steigen, wie hier prognostiziert.
tagesschau.de: Erst im August hat die Bundesregierung eine Senkung des Rentenbeitragssatzes beschlossen. Wie geht das mit der jetzt prognostizierten Steigerung zusammen?
Butterwegge: Die Senkung des Beitragssatzes von 19,6 auf 18,9 Prozent hat mit den zuletzt höheren Einnahmen der Rentenversicherung zu tun: In einer konjunkturell guten Situation sind Löhne und Gehälter ebenso gestiegen wie die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse. Statt einer Beitragssatzsenkung, von der hauptsächlich die Arbeitgeber profitieren, weil Arbeitnehmer sie mit späteren Einbußen bei der Rente bezahlen, hätte die Bundesregierung auf die Anhebung der Regelaltersgrenze von 65 Jahren verzichten sollen. Dieses seit 1916 gültige Renteneintrittsalter war damals eine soziale und kulturelle Errungenschaft von historischem Rang, die fast 100 Jahre später ohne Not preisgegeben wird.
Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de