Anklageschrift gegen den NSU Dokument des Grauens
Ein Jahr nach Bekanntwerden der NSU-Terrorserie ist Anklage gegen Beate Zschäpe und vier weitere Personen erhoben worden. In der fast 500-seitigen Anklageschrift, die tagesschau.de vorliegt, wird die ganze Menschenverachtung der Rechtsterroristen deutlich. Zudem soll der NSU Neonazi-Blätter finanziert haben.
Von Patrick Gensing, tagesschau.de
Die Anklageschrift des Generalbundesanwalts umfasst 488 Seiten. Mehr als 600 Zeugen werden benannt, fast 400 Urkunden sollen die Anklage stützen, 22 Sachverständige werden zitiert. In dem Verfahren müssen sich ab dem Frühjahr vor dem Oberlandesgericht München fünf Personen verantworten.
Beate Zschäpe werden nicht weniger als 27 rechtlich selbstständige Handlungen gemeinschaftlich mit Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos vorgeworfen. Darunter werden zehn Morde und mehr als 20 versuchte Morde aufgeführt. Bei Sprengstoffanschlägen in Köln hatte der NSU mehr als 20 Menschen schwer verletzt.
Dazu kommen mehrere Banküberfälle, die sie als NSU-Mitglied mitgetragen hatte, sowie die Brandstiftung in ihrer Wohnung in Zwickau, wobei sie den Tod von mehreren Menschen in Kauf genommen haben soll. So kümmerte es Zschäpe nicht, dass in einer Nachbarwohnung beispielsweise eine fast 90-jährige Nachbarin war, als sie das Hauptquartier des NSU in die Luft jagte.
Bundesweit aktiv
Trotz der Zerstörungen konnten die Ermittler noch zahlreiche Beweismittel sichern. Neben Stadtplänen von mehreren Anschlagsorten wie München, Hamburg, Nürnberg oder Dortmund auch Karten von Greifswald mit handschriftlichen Markierungen sowie von Neustadt (Holstein), Osnabrück, Braunschweig, Göttingen, Hamm, Paderborn und Bielefeld. Der NSU war bundesweit aktiv und unterwegs - dank der Unterstützer.
Zudem hatten die Rechtsterroristen ihre Ziele ausgekundschaftet - oder auskundschaften lassen. Als mögliche Anschlagziele hatten sie islamische Zentren, jüdische Einrichtungen und Flüchtlingsheime aufgeführt - und diese teilweise mit Details versehen. So hieß es bei einem Asylbewerberheim, die Tür habe kein Schloss und sei offen. Ein deutlicher Hinweis auf Helfer aus den jeweiligen Städten, allerdings sollen die Rechtsterroristen auch selbst Tatorte genau beobachtet haben.
Waffenarsenal
Weiterhin verfügten die Rechtsterroristen über ein Waffenarsenal und massenhaft Munition, teilweise aufbewahrt in alten Packungen von Kinderriegeln. Rund 2,5 Kilogramm Schwarzpulver, 20 Schusswaffen (davon zwei Maschinenpistolen) und 1600 Patronen und Munitionsteile wurden in den Trümmern der Wohnung gesichert, heißt es in der Anklageschrift, dazu ein als Holzkiste getarnter Schussapparat, um in der Öffentlichkeit unbemerkt auf Menschen feuern zu können.
Die Ermittler fanden in den Trümmern zahlreiche Briefumschläge mit der Bekenner-DVD darin - frankiert und adressiert unter anderem an die ARD.ZDF Medienakademie in Nürnberg oder das ARD-Hauptstadtstudio. Zschäpe nahm vor der Sprengung der Wohnung noch zahlreiche Bekennerschreiben an sich und verschickte diese zwischen dem 4. und 8. November 2011, bevor sie sich stellte.
Alte Kameraden aus Jena
Die Anklage stützt sich vor allem auf Aussagen von Holger G. und Carsten S., die ebenfalls zu den Beschuldigten gehören. G. soll den NSU vom Februar 2004 bis Mai 2011 unterstützt haben. Er hatte der Anklageschrift zufolge Führerschein, ADAC- sowie AOK-Karte und einen Reisepass besorgt. Er kommt wie Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe aus der Jenaer Nazi-Szene, zog aber 1997 nach Niedersachsen um. G. behauptet, er sei danach aus der Szene ausgestiegen; wenig glaubwürdig, da er später noch bei Aufmärschen gesichtet wurde.
Die Rechtsterroristen und viele Unterstützer waren bereits in den 1990er-Jahren in Thüringen aktiv.
Von Überfällen und Morden will er nichts gewusst haben, er habe solche Taten den untergetauchten Freunden nicht zugetraut. Allerdings war G. bekannt, dass es sich bei Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe um ideologische Waffennarren und politische Hardliner handelte, die den bewaffneten Kampf befürwortet hatten. Der Generalbundesanwalt hält die Behauptung, G. sei unwissend gewesen, daher für widerlegt.
"Systemcheck" auf dem Campingplatz
Zudem hatte sich G. immer wieder mit den Untergetauchten getroffen. In seiner Aussage hatte G. dies als "Systemcheck" bezeichnet: Auf norddeutschen Campingplätzen hätten die Untergetauchten mit G. dessen Lebensumstände besprochen, damit die Tarnung durch seine Papiere bei Kontrollen nicht auffliegt.
Die Rechtsterroristen lebten in Sachsen, Urlaub machten sie an der Ostsee (Bild vermutlich aus dem Jahr 2009).
Ein weiterer Angeklagter ist Ralf Wohlleben. Der langjährige NPD-Funktionär gilt bis zum Jahr 2001 als steuernde Zentralfigur für das Leben im Untergrund. Er sei für die Beschaffung und Weiterleitung der Ceska 83 verantwortlich und wird daher wegen Beihilfe in neun Morden angeklagt.
Wohlleben habe ein konspiratives Kontaktsystem zu den Untergetauchten aufgebaut, er beauftragte Mittelsmänner, denen er genaue Anleitungen gab, beispielsweise für Kuriertätigkeiten.
So überbrachte der ebenfalls angeklagte Carsten S. die Tatwaffe. Dafür muss sich der 32-Jährige wegen Beihilfe zum Mord in neun Fällen verantworten. S. hatte bereits gestanden, die Ceska 83 geliefert zu haben.
Eine zentrale Rolle im NSU-Netzwerk spielte laut Anklage Andrè E. aus Sachsen, der mit seiner Frau über Jahre Kontakt zu den Untergetauchten gehabt haben soll. E. soll zwischen November 2000 und Mai 2009 in fünf Fällen Beihilfe zum versuchten Mord geleistet haben. Zudem wird ihm die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen. So hatte E. demnach Bahncards besorgt, Wohnmobile angemietet und im Jahr 2007 eine Falschaussage bei der Polizei zugunsten von Zschäpe geleistet.
"Serienmäßige Hinrichtung"
Die Anklageschrift betont die politische Dimension der Morde. Der NSU wollte demnach, dass seine Morde als serienmäßige Hinrichtungen wahrgenommen würden, daher sei bei neun Anschlägen die Ceska 83 mit Schalldämpfer benutzt worden. Der Schrecken der Morde sollte noch dadurch erhöht werden, dass die Opfer in Alltagssituationen überrascht und erschossen wurden. Bei allen Morden traten Böhnhardt und Mundlos unmaskiert auf. Nach mehreren Taten fotografierten sie ihre Opfer.
Der NSU soll zwischen 2000 und 2007 in ganz Deutschland gemordet haben.
Dass Zschäpe sich auch für die Morde verantworten muss, wird auch auf eine Aussage einer Zeugin aus Nürnberg gestützt. Diese hatte Zschäpe am 9. Juni 2005 in der Nähe eines Tatorts an der Kasse eines Supermarkts gesehen. Zudem sei Zschäpe in die Planung und Vorbereitung involviert gewesen, habe Reisebewegungen getarnt und für Böhnhardt und Mundlos einen sicheren Rückzugsraum geschaffen. Die Taten seien gemeinsam geplant worden, es gab keine Anführer, sondern den gemeinsamen Willen, aus rassistischen Gründen Menschen mit Migrationshintergrund zu ermorden.
Schüsse auf 16-Jährigen
Insgesamt 15 Überfälle soll der NSU begangen haben, um sich zu finanzieren - in Zwickau, Chemnitz, Stralsund, Arnstadt und Eisenach. Die Brutalität der Neonazis kannte keine Grenzen. So sollen sie am 18. Dezember 1998 einen Edeka-Markt in Chemnitz überfallen haben. Auf der Flucht schossen sie auf einen 16-Jährigen - gezielt auf Kopf und Brust. Der Jugendliche wurde nicht getroffen, doch für 30.000 D-Mark Beute nahmen die Rechtsextremen seinen Tod in Kauf.
Das Geld wurde, wie bereits bekannt, teilweise gespendet. Unbekannt war bislang, dass der NSU nicht nur das Fanzine "Der Weiße Wolf" unterstützte, sondern auch das Magazin "Der Fahnenträger". Erste Recherchen, wonach es sich ebenfalls um ein Fanzine aus Mecklenburg-Vorpommern handele, bestätigten sich nicht. Das Geld ging an ein gleichnamiges Fanzine aus Sachsen-Anhalt. Möglicherweise spendete der NSU zudem an weitere Szene-Magazine.
Bombe in einer Christstollendose
Die Menschenverachtung der Neonazis wurde auch bei einem Anschlag im Dezember 2000 in Köln deutlich. In einem iranischen Lebensmittelgeschäft wollten sie angeblich einkaufen, unter den Waren versteckten sie aber eine Christstollendose mit mehr als einem Kilogramm Schwarzpulver. Die Rechtsterroristen gaben vor, sie hätten ihr Geld vergessen - und ließen den Warenkorb stehen. Nach mehr als drei Wochen öffnete die 19-jährige Tochter des Inhabers die Dose - und zog sich schwere Verbrennungen zu.
Viele Fragen bleiben aber offen: Wie hat Zschäpe am 4. November überhaupt vom Tod ihrer beiden Komplizen erfahren? Und was ist mit anderen mutmaßlichen Unterstützern, vor allem aus der "Blood & Honour"-Szene, wie beispielsweise Jan S. aus Sachsen? Der NSU-Komplex ist noch längst nicht aufgeklärt - trotz der umfangreichen Anklageschrift.