Interview mit Jörg Schönenborn "Die Piratenpartei füllt ein Angebotsvakuum"
Die Piratenpartei hat mit ihrem Achtungserfolg bei der Europawahl auf sich aufmerksam gemacht. Jetzt muss sich zeigen, ob sie die so gewonnene Aufmerksamkeit für sich auch bei der Bundestagswahl nutzen kann. ARD-Wahlexperte Jörg Schönenborn wägt im tagesschau.de-Interview ihre Chancen ab.
tagesschau.de: Eine Partei, die mit dem Thema Internet und vielen jungen Leuten erfolgreich startet - das ist die Piratenpartei. Sind sie die neuen Grünen?
Jörg Schönenborn: Das ist gleich die schwierigste Frage vorneweg. Die Piratenpartei ist unter den Kleinstparteien sicherlich eine, die bessere Voraussetzungen hat als viele andere. Aber die Grünen stehen natürlich für eine politische Erfolgsgeschichte, die nicht mit einem Thema anfing. Die Grünen waren die Friedenspartei, die Anti-Atompartei, die Ökopartei und ein wenig die Anti-Kapitalismuspartei. Insofern hinkt der Vergleich.
tagesschau.de: Inwiefern hat die Piratenpartei bessere Voraussetzungen?
Schönenborn: Zum einen wenden sie sich an eine bestimmte Zielgruppe, nämlich junge, besser gebildete Menschen. Das ist eine Gruppe, unter denen es viele Politikinteressierte gibt, die auf dem gegenwärtigen Parteienmarkt nichts finden, was sie gerne wählen wollen. Für diese Zielgruppe gibt es ein Angebotsvakuum. Darüber hinaus ist das Internet als Mobilisierungsmedium bei deutschen Wahlen bisher ein Totalausfall. Und eine Partei, die speziell eine Internetklientel anspricht, hat da natürlich alle Chancen.
tagesschau.de: Hat die Piratenpartei denn eine Chance, über die von Ihnen genannte Zielgruppe hinaus Wähler zu gewinnen?
Schönenborn: Politische Erfolgsgeschichten fangen in der Regel mit einem festen Fundament an. Wenn man sich die Ergebnisse der Europawahl anschaut, dann ist zu sehen: Die Wähler der Piratenpartei sind zu zwei Dritteln männlich, bis 35 Jahre alt, gut gebildet und leben in Großstädten.
Wenn man eine Zielgruppe so klar erfasst, dann hat man in den anderen Zielgruppen auch Schwierigkeiten. Die kann man nur überwinden, wenn die eigene Politik auch in der Öffentlichkeit sichtbar wird. Und das ist bei der Piratenpartei bisher nicht der Fall, von der Präsenz im Internet einmal abgesehen.
tagesschau.de: Sie meinen also, neue Zielgruppen erschließen sich erst dann, wenn die Partei in Parlamente und Bürgerschaften einzieht ?
Schönenborn: Alle Beispiele, die wir dafür in Deutschland haben, beginnen in kleinen Parlamenten. Die NPD, die Ende der sechziger Jahre fast in den Bundestag gekommen wäre, hat erst Landtage erobert. Die Grünen haben ebenfalls erst Landtage erobert, bevor sie in den Bundestag kamen. Viele kleine Parteien, wie die Statt-Partei, haben zuerst eine kleine Basis gehabt, die ihnen Aufmerksamkeit gesichert hat.
Die Bundestagswahl ist selbst bei schlechter Wahlbeteiligung eine Wahl mit 45 Millionen Wählern. Das heißt, um fünf Prozent der Stimmen zu erreichen, braucht eine Partei rund 2,5 Millionen Wähler oder mehr. Das sind zehn Mal so viele Stimmen, wie die Piratenpartei bei der Europawahl gehabt hat. Das ist eine gigantische Zahl, die man aus dem Stand eigentlich nicht erreichen kann.
tagesschau.de: Ein Prozent - das ist das Ziel, das die Piratenpartei für die Bundestagswahl ausgegeben hat. Wird sie dieses Ziel ebenso verfehlen wie die Fünf-Prozent-Hürde?
Schönenborn: Ich habe die Fünf-Prozent-Hürde genannt, weil das Erreichen dieser Marke Aufmerksamkeit sichert. Parteien, die den Sprung ins Parlament schaffen, haben immer auch eine Basis in der Öffentlichkeit. Voraussetzung für ein gutes Ergebnis wäre aus meiner Sicht, dass sie das eher natürlich zugewachsene Internet für eine Kampagne nutzt. Es müsste so etwas wie eine Welle im Netz zu Gunsten dieser Partei beginnen.
tagesschau.de: Sehen Sie diese Welle schon in Ansätzen?
Schönenborn: Ich sehe sie im Moment, soweit ich das beobachte, lediglich in einer ohnehin schon interessierten Szene. Der Kreis der Interessierten ist zwar klar auszumachen, was auf allen Märkten immer ein Riesenvorteil ist, aber es ist trotz allem eine Zielgruppe, die man mit der Lupe anschauen muss.
tagesschau.de: Die Europawahl gilt als Spielwiese der Wähler. Das Wahlverhalten bei der Bundestagswahl ist ein anderes.
Schönenborn: Das ist richtig. Es gibt eine Wahl, bei der sich die Deutschen schwer tun, die Stimme als Protestzettel zu benutzen - und das ist die Bundestagswahl. Seit den siebziger Jahren sind es wirtschafts- und sozialpolitische Fragen, die bei dieser Wahl die entscheidende Rolle spielen. Über die bisherigen Wähler der Piratenpartei wissen wir hingegen, dass die Stichwörter innere Sicherheit und Datensicherheit die Kernthemen sind. Ich bin mir nicht sicher, ob es genug Menschen gibt, die am Wahltag sagen, diese Themen sind mir wichtiger als mein Arbeitsplatz, meine Rente, meine Einkommensverhältnisse.
tagesschau.de: In der letzten Zeit gab es einige Schlagzeilen im Zusammenhang mit dem Bundestagsabgeordneten Jörg Tauss, Ex-SPD- und mittlerweile Mitglied der Piratenpartei, gegen den die Staatsanwaltschaft Anklage im Zusammenhang mit Kinderpornografie erheben will. Ist er für die Piratenpartei ein Gewinn oder ein Problem?
Schönenborn: Das ist schwer abzuschätzen. Zuerst erscheint er als Problem, da der Verdacht, unter dem er steht, nie für gute Schlagzeilen sorgt. Auf der anderen Seite ist natürlich denkbar, dass die Personalie Tauss wieder in den Hintergrund gerät, aber die Erinnerung an eine Partei bleibt, von der viele vorher nicht gehört hatten. Es gibt im Nachrichtengeschäft den zynischen Satz: "Hauptsache der Name ist richtig geschrieben." Wenn es also etwas Gutes gibt an dieser Debatte, dann sicherlich, dass die Piratenpartei erwähnt wird. Würde jedoch in absehbarer Zeit gewählt, wäre es ein ziemlicher Ballast.
tagesschau.de: Die Piratenpartei ist geprägt durch eine individualistische Parteiarbeit, die oft von zu Hause, vom Computer aus über das Internet stattfindet. Glauben Sie, dass sich in dieser Partei Strukturen herausbilden können, die eine Parteiarbeit im konventionellen Sinne ermöglichen?
Schönenborn: In der Politik gilt, wie in vielen anderen Lebensbereichen auch: Erfolg nährt den Erfolg. Ich glaube, die Bereitschaft von vielen Anhängern, sich über das Schreiben von E-Mails und Blogtexten hinaus zu engagieren, braucht eine Erfolgsbasis. Das kann eine Aufwärtsspirale sein, wenn es eine Erfolgsgeschichte wird. Wenn die engagierten Anhänger nachkommen, dann wird es auch irgendwann Strukturen geben. Doch der erste Schritt zum Erfolg ist der allerschwierigste. Und man darf nicht unterschätzen, wie hoch diese Hürde für diese Partei ist, selbst ihre selbstgesetzte Hürde bei der Bundestagswahl von einem Prozent der Stimmen.
tagesschau.de: Warum ist die Aufmerksamkeit auch der Medien für diese Partei eigentlich so groß - im Vergleich zu anderen Parteien ähnlicher Größe? Was macht die Piratenpartei so sexy?
Schönenborn: Der Name ist natürlich sehr sexy. Der bleibt im Gedächtnis und ist kein schlechter Marketinggag. Aber ich glaube darüber hinaus, dass sie Aufmerksamkeit auf ein Thema lenkt, das viele Menschen noch nicht als Problem wahrgenommen haben.
Mir fällt als Vergleich dazu die Partei Die Grauen ein. Es gab eine Zeit in den Neunziger Jahren, als diese Gruppe um Trude Unruh große Aufmerksamkeit erregte und man dieser Partei auch durchaus einiges zutraute. Einige Achtungserfolge hat sie ja auch gehabt. Damals waren Themen wie die Vernachlässigung der älteren Generation oder der Gewalt in der Pflege in der Gesellschaft noch nicht im Bewusstsein verankert. Für das Thema Freiheit im Internet gilt das heute genauso. Viele Menschen, die das Netz täglich nutzen, sind sich nicht darüber im Klaren, dass dort alte Spielregeln nicht automatisch gelten.
tagesschau.de: Werden die etablierten Parteien die Themen der Piratenpartei irgendwann schlucken - so wie es teilweise den Grünen und ihrem Thema Ökologie passiert ist? Und wird die Piratenpartei so überflüssig werden?
Schönenborn: Dafür sind einzelne Ziele im Moment noch zu umstritten. Da bin ich eher skeptisch, weil es in der Sache momentan häufig um radikale Positionen geht.
tagesschau.de: Und wenn einzelne Aspekte des Themas, beispielsweise die Debatte um Killerspiele, oder generell die Datensicherheit im Internet, von den Innenpolitikern der etablierten Parteien mehr thematisiert würden?
Jörg Schönenborn: Junge Politiker der etablierten Parteien könnten vielleicht diese Themen aufgreifen. Doch die Chance, dass Fragen des Datenschutzes in die allererste Reihe der politischen Themen kommen, ist gering, da die Fragen nach Rentenerhöhungen oder nach Mehrwertsteuersenkungen viel publikumswirksamer sind. Politik wird in Berlin häufig auf der Sachebene in klugen Ausschüssen gemacht.
Vielleicht besteht die größte Chance der Piratenpartei darin, dass sie junge Politiker in den etablierten Parteien zur Sachkunde ermuntert. Insofern könnte in der Sachpolitik am Ende doch die ein oder andere Spur übrig bleiben.
Das Interview führte Fabian Grabowsky, tagesschau.de.