Interviews zur Karlsruher ESM-Entscheidung Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus - theoretisch
Das Grundgesetz ist eindeutig: Das Volk ist der Souverän im Staat. Immer öfter aber müssen die gewählten Volksvertreter ihre Rechte einklagen, vor allem bei Entscheidungen über Europa. Was das für die Demokratie bedeutet, erklären die Politologen Suzanne Schüttemeyer und Andreas Maurer im Interview mit tagesschau.de.
tagesschau.de: Können Bundestagsabgeordnete nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes tatsächlich damit rechnen, schneller und besser über europäische Entscheidungsprozesse informiert zu werden?
Suzanne Schüttemeyer: Ja, und das nicht erst seit der heutigen Entscheidung. Seit einigen Jahren sehen wir, dass das Parlament sich stark einmischen will und kann. Dafür gibt es die gesetzlichen Grundlagen. Vor allem die Parlamentarier selbst lernen zunehmend, dass sie ihre Verfahren immer mehr auf die europäischen Entscheidungsprozesse abstimmen müssen. Es spielt halt immer mehr Musik in Brüssel.
Andreas Maurer: Die Bundestagsabgeordneten haben nach dem Urteil tatsächlich eine größere Chance, schneller und besser informiert zu werden. Vor allem muss der Bundestag so informiert werden, dass er vor der abschließenden Entscheidung durch die Bundesregierung eine Stellungnahme abgeben kann. In der Praxis heißt das aber noch nicht, dass sich der Bundestag diese Rechte auch wirklich nimmt. Denn die Mehrheit der Abgeordneten wird ihr Glück nicht darin sehen, ihre Regierung ständig vorzuführen. Folglich geht es also mehr um die Frage, welche Minderheitsrechte des Parlaments schützenswert sind.
Mehrheit vs. Minderheit
tagesschau.de: Es ist ja nicht die erste Entscheidung dieser Art zugunsten der Abgeordneten. Geändert hat sich aber bisher offenbar wenig. Steuert das Parlament auf die Bedeutungslosigkeit zu?
Schüttemeyer: Davon kann überhaupt keine Rede sein. Leider nimmt die Öffentlichkeit das anders wahr. Es wird oft so getan, als ob das Parlament als Ganzes einer übermächtigen Regierung gegenüber steht, die ständig mauert. Tatsächlich aber steht im Parlament die Regierungsmehrheit der Oppositionsminderheit gegenüber. Zwischen den Abgeordneten der Mehrheit und ihrer Regierung findet ein vielfacher und häufig auch nicht-öffentlicher Informationsaustausch statt, zum Beispiel in den Arbeitsgruppen der Fraktionen. Die Mehrheit der Abgeordneten, im Gegensatz zur Opposition, ist also am Willenbildungsprozess beteiligt, was oft unterschätzt wird. Die Opposition ist auf öffentliche Kritik und Kontrolle angewiesen. Deshalb hat sie ihre Rechte auch vom Bundesverfassungsgericht noch einmal sehr deutlich klarstellen lassen.
Maurer: Die Karlsruher Urteile müssen in Zusammenhang mit den Klägern gesehen werden. Das sind häufig genug einzelne Akteure im besten Fall aus der Mitte des Bundestags, manchmal aber auch Hinterbänkler, die kaum für ihre eigene Fraktion sprechen. Der Mehrheit gehören sie jedenfalls nicht an. Sie haben aber ein besonderes Interesse daran, ihre Vorrechte innerhalb des Parlaments besonders vom Verfassungsgericht schützen zu lassen.
"Das Volk kann nicht machen, was es will"
tagesschau.de: Wie viel Macht geht vom Volk noch aus?
Schüttemeyer: Die Staatsgewalt geht vom Volk aus, um dann von spezialisierten Organen wahrgenommen zu werden. Auch das Volk kann glücklicherweise im demokratischen Verfassungsstaat nicht tun und lassen, was es will. Durch Wahlen und Repräsentationen ergibt sich der riesige Vorteil, dass sich professionalisierte Personen ständig mit diesen Fragen befassen. Bei unterschiedlichster Interessenslage in der Bevölkerung entscheiden wir zum Beispiel ständig auch für nachfolgende Generationen. Das funktioniert vor allem über die parlamentarische Repräsentation, weil hier am besten abgeglichen und verhandelt werden kann.
Maurer: Theoretisch geht alle Staatsgewalt vom Volke aus. Die Regierung kann im Namen der Bürger und für die Bürger sprechen. Dazu ist sie per Wahl legitimiert worden. Daran ändert auch eine schwindende Wahlbeteiligung nichts. Das Problem entsteht, wenn Regierungen in internationalen Zusammenhängen mehr oder weniger kontrollfrei agieren können: G8, G20, EU, auch wenn die Entscheidungen nicht immer rechtlich bindend sind.
"Über die Schuldenbremse entscheidet kein europäisches Organ"
tagesschau.de: Ist zwischen Berlin und Brüssel eine Art demokratisches Machtvakuum entstanden? Haben die Bundestagsabgeordneten Macht abgegeben, die aber noch nicht bei den Europaabgeordneten angekommen ist?
Schüttemeyer: Das europäische Parlament hat in den vergangenen 30 Jahren glücklicherweise an Einfluss gewonnen. Wobei ein Teil der Kompetenzen, die einmal die Bundestagsabgeordneten inne hatten, zwar in Brüssel angekommen sind, aber zunächst nicht beim Parlament. Diese Kompetenzen wurden vor allem von den Regierungen im Ministerrat und in der europäischen Kommission wahrgenommen. Aber das hat sich verändert. Inzwischen muss das europäische Parlament bei 75 Prozent aller Entscheidungen zustimmen.
Maurer: Im Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik hat das europäische Parlament nach wie vor nichts zu sagen. Über die Schuldenbremse entscheidet kein europäisches Organ. Das machen die Staats- und Regierungschefs unter sich aus. Das sollten sie eigentlich nicht tun, so lange sie nicht von einem direkt gewählten Parlament derart kontrolliert werden, dass im "schlimmsten" Fall die Regierung zurücktreten müsste. An dieser Stelle hakt das Karlsruher Urteil heute ein und verlangt eine Beteiligung des nationalen Parlaments.
Die Interviews führte Ute Welty, tagesschau.de