Interview zum Winterwetter "Wir sind keinen Winter mehr gewohnt"
Kilometerlange Staus, verspätete Züge, annullierte Flüge - besonders Reisende leiden unter dem Winterwetter in Deutschland. Der Verkehrswissenschaftler Heiner Monheim sagte im Gespräch mit tagesschau.de, dass Mensch und Maschine einfach nicht mehr auf harte Winter eingestellt sind.
tagesschau.de: Früher gab es auch harte Winter. Warum wirkt heute jeder Tag mit Schnee wie eine Katastrophe?
Heiner Monheim: Weil wir es nicht mehr gewohnt sind. Wir hatten lange keine harten Winter mehr und haben gewissermaßen nicht mehr geübt. Früher war das eine ganz normale Lastsituation, mit der man auch vernünftig umgehen konnte. Heute bringen schon 30 Zentimeter Schnee die Republik um den Verstand, weil das alles nicht mehr eingeübte Routinen sind.
tagesschau.de: Warum kommt es schon bei wenig Schnee zu Chaos auf den Autobahnen?
Monheim: Ganz früher in den 50er und 60er Jahren hatte jeder Autofahrer Schneeketten im Kofferraum. Das war ganz normal. Dann kam die Zeit der Spikes, die einen zunächst mal scheinbar völlig wetterunabhängig gemacht haben. Man hatte so das Gefühl, dass man den Winter austrickst. Dann sind die Spikes, weil sie natürlich Schäden an den Straßen verursacht haben, verboten worden. Trotzdem haben heute nur wenige Autofahrer Schneeketten.
tagesschau.de: Warum ist das so?
Monheim: Wir haben uns alle einlullen lassen von der Vorstellung, dass der Staat schon dafür sorgen wird, dass wir irgendwie freie Straßen kriegen. Jedes moderne Auto hat so einen Temperaturfühler. Die Menschen müssen gar nicht mehr rausgucken, ob es schneit. Das können sie einfach auf ihrer Elektronik ablessen. Die Menschen haben sich völlig einlullen lassen in der Vorstellung: "Wir leben völlig unabhängig vom Wetter".
tagesschau.de: Viele Menschen steigen auf die Bahn um. Aber auch hier kommt es zu Zugausfällen und massiven Verspätungen. Warum?
Monheim: Das ist erstens ein organisatorisches Problem, das die Zentralisierung der Stellwerke betrifft. Die Bahn wird ferngesteuert und damit sind Entscheidungen vor Ort eigentlich nicht mehr möglich. Zweitens gibt es ein Personalproblem. Die Bahn hat in den letzten dreißig Jahren praktisch 250.000 Stellen gestrichen. Früher hat es entlang der Strecken sehr viel Personal gegeben - Personal, das sich um einen umgestürzten Baum oder einen abgebrochenen Ast oder zu hohen Schnee kümmern konnte. Das gibt es alles nicht mehr. Und drittens ist die Technik der Bahn sehr empfindlich. Wir haben ja inzwischen eine sehr stark elektronisierte Bahn. Ein ICE fährt mit einer sehr sensiblen Software, und diese Systeme sind relativ stark wetterabhängig.
tagesschau.de: Aus welchen Gründen kapitulieren Flughäfen schon bei 10 cm Schnee?
Monheim: Zu den Zeiten, als die Winter noch regelmäßig härter waren, wurde noch nicht so viel geflogen. Das Fliegen hat in den letzten dreißig Jahren extrem zugenommen. Dadurch sind Flughäfen heute sehr komplexe Systeme geworden. Das sieht man schon an den Enteisungsanlagen. Ein Flughafen hat eben nicht für genügend Maschinen Enteisungsanlagen zur Verfügung und dann dauert das Enteisen. Beim Fliegen kommt es eben auch hauptsächlich auf Sicherheit an. Da geht es eben gleich um 200 oder 300 Menschenleben, die da gefährdet sind. Unter diesen Bedingungen wird man den Flugplan nicht einfach trotz des Wetters durchziehen können. Bei der Bahn ginge das hingegen schon.
tagesschau.de: Skandinavien hat jeden Winter mit Schneemassen zu kämpfen. Dort scheint es keine Probleme zu geben. Was machen die Skandinavier anders als die Deutschen?
Monheim: Jeder Winter ist dort hart, das stimmt. Darum ist es für die Skandinavier völlig normal, Schneeketten zu benutzen. Und da ist es natürlich auch ganz normal, dass jede Region und jeder Ort seine eigenen Winterdienstanlagen hat und dass die Bahn eben mit Schneefräsen ihr Netz freihält.
tagesschau.de: Was sollten denn Menschen tun, die unbedingt eine weite Reise machen wollen?
Monheim: Im Augenblick würde ich sagen: zuhause bleiben und warten bis sich alles normalisiert hat. Es gibt Flugreisen, wo das wirklich sehr schmerzlich ist. Aber es gibt natürlich auch eine Menge Flugreisen, wo man sagt: "Meine Güte, dann fliegt man halt nicht." Bei den Tausenden und Zehntausenden, die jetzt irgendwo nicht mehr wegkommen, liegen natürlich die Nerven blank, weil die ja auch nicht genau wissen, wie es weiter geht. Dieses Leben mit der Unsicherheit, das ist natürlich für viele Leute eine sehr gewöhnungsbedüftige Erfahrung.
Das Interview führte Hanna Grimm für tagesschau.de