ARD-Korrespondenten berichten Das Internet als Katalysator des Protests
Die Gedanken sind frei - vor allem im Internet. Während das tunesische Regime noch Bilder der Unruhen zensierte, verbreiteten sie sich bereits im Netz - und der Funke griff auf andere Staaten über. Welche Rolle spielt das Internet bei Protesten in Nordafrika und im Nahen Osten? ARD-Korrespondenten geben Einblicke.
Tunesien: Ben Alis Sturz ist auch dem Internet zu verdanken
Von Marc Dugge, ARD-Hörfunkkorrespondent Rabat
Der Sturz Ben Alis in Tunesien ist auch dem Internet zu verdanken: Mithilfe von Blogs und Netzwerken wie Twitter oder Facebook organisierten sich die Demonstranten. Im Internet erfuhr man, wo die nächste Kundgebung ist - und wo Milizen ihr Unwesen treiben. Auf der Seite von Wikileaks konnte man einen Eindruck von den mafiösen Machenschaften der Präsidentenfamilie bekommen. Das Regime von Ben Ali hatte die explosive Wirkung des Internets richtig eingeschätzt: Seiten wie Youtube oder Dailymotion blieben lange gesperrt. Sie wurden erst als Zugeständnis an die Protestbewegung zugänglich gemacht.
Die Maghrebstaaten sind mit einem Dilemma konfrontiert. Zum einen wollen sie sich ausländischen Investoren und Geldgebern als fortschrittliche Länder präsentieren. Da sind gute Internetverbindungen unerlässlich. Zum anderen fließen durch das Internet aber auch Informationen, die sich nur schlecht kontrollieren und zurückverfolgen lassen. Sie verbreiten sich auch dank sozialer Netzwerke wie in einem Schneeballsystem - und können so für die Machthaber zur Gefahr werden.
Längst ist das Internet im Maghreb nicht mehr nur einer reichen und ohnehin gut informierten städtischen Elite zugänglich. Auch auf dem Land nutzen Menschen das Netz, um mit Freunden und Verwandten in Kontakt zu bleiben - auch per Mobilfunk. Nicht umsonst bietet etwa die US-Botschaft in Marokko spezielle Kurse für Blogger und Onlinejournalisten an. In einer Region, in der Zeitungen, Hörfunk- und Fernsehsender noch immer zensiert werden, ist das Internet für viele Menschen das Medium der Wahl.
Ägypten: Organisierter Protest im Netz
Von Jörg Armbruster, ARD Kairo
Nach den Demonstrationen in Tunesien haben auch in Ägypten viele Jugendliche Hoffnung geschöpft auf einen Systemwandel. Über Handy und Internet rufen sie zu Demonstrationen auf - unter anderem auf der Facebook-Seite eines in Tunesien offenbar von der Polizei zu Tode gefolterten Jugendlichen. Ausgerüstet mit Handy und Kleinkamera dokumentieren sie die Straßenproteste - trotz Internet-Sperren.
Iran: Eine große oppositionelle Bloggerszene
Von Ulrich Pick, ARD-Hörfunkkorrespondent Istanbul
Welch eine bedeutende Rolle das Internet im Iran spielt, zeigte sich bereits bei den umstrittenen Präsidentschaftswahlen im Juni 2009. Durch Online-Information konnte sich die Opposition nicht nur ausgesprochen gut vor dem Urnengang organisieren. Mit Hilfe elektronischer Kommunikation erfuhr die Welt zudem, dass die Stimmabgabe allem Anschein nach manipuliert wurde. Zum Tragen kam das Internet darüber hinaus bei der Organisation der anschließenden Massendemonstrationen, bei denen Hunderttausende auf die Straßen gingen und von den Sicherheitskräften zum Teil schwer attackiert wurden.
Die oppositionelle iranische Bloggerszene, die im internationalen Vergleich als verhältnismäßig groß und sehr aktiv gilt, ist dem Regime ein Dorn im Auge. Da das Internet letztlich nicht komplett kontrolliert werden kann, dient es als das Medium der Opposition. Im Internetzeitalter lassen sich schließlich Informationen kaum noch verheimlichen. Was das Regime der eigenen Bevölkerung vorenthält, holt diese sich online über das Ausland. Selbst dass große Teile des Internets im Iran offiziell gesperrt worden sind, stört letztlich nur noch wenig. Wer will, kann sich recht unkompliziert eine Software besorgen, mit der sich die Sperrung umgehen lässt.
Die Kehrseite der aktiven iranischen Online-Szene ist allerdings auch nicht zu übersehen: Nirgends auf der Welt sind mehr Blogger und Journalisten im Gefängnis wie im Iran.
Gaza: Internet ist oft einziges Kommunikationsmittel
Von Clemens Verenkotte, ARD-Hörfunkkorrespondent Tel Aviv
Im abgeriegelten Gaza-Streifen bietet das Internet jungen Palästinensern (60 Prozent der Bevölkerung in Gaza ist jünger als 24 Jahre) die einzige Möglichkeit, mit "draußen" zu kommunizieren. Es sind vielfach Studentinnen und Studenten, die eigene Blogs über ihr Leben in Gaza schreiben.
Die Kontrolle des Internets durch die in Gaza herrschende Hamas-Bewegung ist streng und rigide. Anfang Januar veröffentlichte eine Gruppe junger Studenten in Gaza ("Gaza Youth Breaks Out") - ihr "Manifest für Wandel", das inzwischen in 21 Sprachen übersetzt und von der Hamas als direkte Kampfansage verstanden worden ist. Letzte Woche sagten mir Studenten in Gaza, dass inzwischen Hunderte von jungen Leuten zu Vernehmungen vorgeladen worden seien. Alle müssten ihre Laptops und Handys zum Verhör mitbringen, um nachforschen zu können, ob sie mit der "Gaza Youth Breaks Out"-Gruppe in Verbindung stehen oder auf anderen "oppositionellen" Internetseiten waren.