Interview zur Computersucht An den Monitor gefesselt
World of Warcraft, Lord of the Rings Online, Everquest - Online-Rollenspiele sind auch in diesem Jahr wieder der Renner auf der Games Convention in Leipzig. Milliarden setzt die Spieleindustrie inzwischen mit den virtuellen Welten um. Und die sind oft so faszinierend, dass sie eine große Gefahr bergen. Inzwischen sind hunderttausende Jugendliche süchtig nach der virtuellen Welt - und kaum noch in der Lage, die Realität zu bewältigen. tagesschau.de sprach mit dem Psychologen Wolfgang Bergmann über die Sucht nach dem Computer.
tagesschau.de: Herr Bergmann, wenn ich drei bis vier Stunden am Tag am Computer spiele, bin ich dann süchtig?
Wolfgang Bergmann: Nein, mit Sicherheit nicht. Sucht setzt erst dann ein, wenn die Realität, also die realen Freunde und später die Schule, das Studium oder der Beruf nicht mehr interessieren. Das erste Warnzeichen für eine beginnende Sucht sind die Freunde: Die kommen nicht mehr - und sie werden auch nicht vermisst. Der Junge - 97 Prozent aller Computer-Abhängigen sind männlich - hat das Gefühl, er habe seinen Freundeskreis online.
Das zweite Warnzeichen: Für Computersüchtige spielt der eigene Körper keine Rolle mehr - wichtig sind nur noch die Augen, die Tastatur und der Verstand. Wenn sich das in die äußere Erscheinung übersetzt, der Junge immer vernachlässigter rumläuft und sich nicht mehr für die eigene Ernährung interessiert, muss man von einer Sucht sprechen. Das gesamte Seelische und Körperliche ist dann an den Monitor gefesselt.
tagesschau.de: Kann man die Zahl der Computersüchtigen in Deutschland beziffern?
Bergmann: Die Zahlen kann man nur schätzen. Die Charité in Berlin ging vor zwei Jahren von 400.000 bis 600.000 aus, inzwischen werden diese Zahlen aber immer wieder nach oben korrigiert. Es ist außerdem sehr wahrscheinlich, dass es eine Dunkelziffer gibt, die weitaus höher liegt.
tagesschau.de: Online-Rollenspiele wie zum Beispiel World of Warcraft sind der Renner – auch bei der heute beginnenden Games Convention in Leipzig. Milliarden werden mit solchen Spielen inzwischen umgesetzt. Was macht den Reiz solcher Online-Rollenspiele aus?
Bergmann: Die Faszination hat verschiedene Gründe: Online-Rollenspiele dauern 24 Stunden, sie haben kein Ende. Und die Spieler sind in eine virtuelle soziale Gemeinschaft - eine so genannte Gilde - eingebunden. Sie haben sich Mühe gegeben, Teil dieser Gemeinschaft zu werden, so dass sie auch im realen Leben großen Raum einnimmt. Wenn ein Spieler morgens in der Schule sitzt, dann weiß er: 'Meine Gilde ist gerade im entscheidenden Kampf gegen den mächtigen Boss'. Das bedeutet, der Spieler wird an den Computer zurückgezwungen. Er muss so viel Zeit wie möglich im Spiel verbringen - tut er das nicht, verliert er Punkte und das Vertrauen seiner virtuellen Freunde.
Schließlich ist der Spieler in der Online-Welt omnipotent: Er vernichtet Feinde, besteht Abenteuer - das verschafft ihm ein sehr starkes Grandiositätsgefühl. Wenn ein Spieler dieses Gefühl zu lange erlebt hat, dann will er darauf auch nicht mehr verzichten.
tagesschau.de: Warum werden Jugendliche süchtig nach Computern und welche Jugendlichen sind besonders gefährdet?
Bergmann: Computersüchtig werden nur Kinder, die ohnehin eine psychische Gefährdung aufweisen. Seelisch gesund Kinder oder Jugendliche werden nicht süchtig. Die typischen Voraussetzungen für die Sucht nach Computern sind eine Neigung zur Depression, eine hohe Kränkbarkeit und ein narzisstischer Charakter. Ein solch narzisstischer Charakter meint in diesem Fall nicht so sehr Eigenliebe, sondern eine übermäßig starke Mutterbindung - das heißt, das Kind wird und wurde übermäßig umsorgt und verwöhnt. Das Kind hält sich für Nabel der Welt, jedes Bedürfnis wird unmittelbar befriedigt. Genau das funktioniert im Computer: Ein Klick eröffnet eine ganze Welt von Abenteuern, bunten Bildern und sozialen Beziehungen.
tagesschau.de: Nun sind Computer und das Internet aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken. Was können Eltern tun, die den Verdacht haben, ihr Sohn oder ihre Tochter sei im Begriff, abhängig zu werden? Und was kann ein Therapeut tun?
Bergmann: Es ist in der Tat eines der großen Probleme, dass man nicht ohne weiteres das Internet abschalten kann. Jugendliche müssen das Internet im Griff haben, zum Beispiel für die Schule. Es gibt grobe Abstufungen, wann ein therapeutisches Eingreifen sinnvoll ist: Wenn man für ein Kind unter 14 Jahren keine vernünftigen Regelungen zur Kontrolle der Zeit am Computer finden kann, weil das Kind alle Vereinbarungen missachtet, dann sollte man den Computer für vier Monate auf den Dachboden stellen. Die Kinder laufen dann drei Tage im Kreis, aber am vierten Tag gehen sie wieder Fußball spielen.
Wenn die Kinder aber älter sind und die Abhängigkeit fortgeschritten ist, wenn man sich also tatsächlich in einer Suchtnähe bewegt, dann kann kompletter Entzug zu einer Depression führen, die ist dann mindestens so ernst wie eine Computersucht. Damit ist also nichts gewonnen. In einem solchen Fall muss man einen erfahrenen Therapeuten aufsuchen - da allerdings geht das Dilemma los: Es gibt so gut wie keine Therapeuten für das Problem. Die ganze Therapieszene - ähnlich wie weite Teile des pädagogischen Milieus - steht dem Computer fremd und teilweise auch völlig verständnislos gegenüber. Therapie funktioniert nur dann, wenn dem Therapeut die Faszination dieser Spiele nicht fremd ist. Nur dann kann ein Patient das nötige Vertrauen fassen, um dem Therapeuten wieder in die reale Welt zu folgen.
tagesschau.de: Sie sagen, die Therapeuten hätten noch einiges nachzuholen. Wird das Problem Computersucht allgemein unterschätzt?
Bergmann: Nein, das kann man nicht sagen. Inzwischen wird das Problem sehr breit diskutiert. Das Problem ist, dass die Kenntnisse dieser völlig neuen Welt noch sehr gering sind. Wir haben es nicht nur mit einer Technik, sondern mit einer tiefgreifenden Veränderung der Kultur zu tun. Das wird oft nicht richtig verstanden. Die Bedeutung von Texten verändert sich im Moment ebenso wie sich die Lesekultur verändert. Das wird oft nicht verstanden und dann wird zu einfachen Erklärungen gegriffen wie etwa: Die Schüler sind einfach zu faul. Das sind sie aber nicht. Wir müssen versuchen, die Eigenarten dieses kulturellen Wandels zu begreifen - nur dann können wir den Kindern helfen.
Das Gespräch führte Jan Oltmanns, tagesschau.de