Kritik nach EU-Gipfel "Cameron schießt ein gigantisches Eigentor"
Nach dem Nein aus London zu einer Fiskalunion wächst die Kritik an Premier Cameron. Der SPD-Europapolitiker Schulz glaubt, Cameron habe "ein gigantisches Eigentor" geschossen - und stellt infrage, ob das Land in der EU bleibt. Bundespräsident Wulff lehnte den Austritt Großbritanniens aus der EU strikt ab.
Nach dem Nein des britischen Premierministers David Cameron zur europäischen Fiskalunion reißt die Kritik an Großbritannien nicht ab.
Der SPD-Europapolitiker Martin Schulz stellte den Verbleib Großbritanniens in der EU in Frage. "Ich habe Zweifel, ob Großbritannien langfristig in der EU bleibt", sagte er der "Bild am Sonntag". Noch nie sei Großbritannien so isoliert gewesen. "Cameron schießt ein gigantisches Eigentor", ergänzte Schulz. "In seinem eigenen Land werden die EU-Gegner jetzt Druck auf Cameron ausüben, ganz aus der EU auszusteigen."
Schulz, der im Januar voraussichtlich den Polen Jerzy Buzek als Parlamentspräsidenten ablöst, versicherte, dass die EU einen Austritt des Landes verkraften könnte. Der Chef der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament übte zugleich Kritik an den Ergebnissen des EU-Gipfels in Brüssel und erklärte: "Der Gipfel hat die entscheidenden Fragen nicht gelöst."
Wulff: Große Familie mit gegenseitiger Verantwortung
Bundespräsident Christian Wulff wandte sich strikt gegen den Austritt Großbritanniens aus der EU: "Großbritannien ist und bleibt ein großer Gewinn." Er fügte hinzu: "Wir sollten wissen, was Europa bedeutet und nie darüber spekulieren, Europa zu verkleinern. Unser Weg in die Welt führt über dieses Europa. Auch große Probleme muss man gemeinsam lösen."
Wulff mahnte weiter, die Beziehungen Deutschlands zu Frankreich, Italien und Großbritanniens seien "tragende Säulen in der EU". Er wolle Königin Elizabeth versichern, dass es bei diesem engen Verhältnis bleiben werde. "Wir sind eine große Familie in Europa, mit gegenseitiger Verantwortung. Wir Deutschen werden uns dem nie entziehen", betonte der Bundespräsident.
Westerwelle äußert Bedauern
Bundesaußenminister Guido Westerwelle sagte, es sei "bedauerlich, dass nicht alle mitmachen". Die Türen stünden aber weiterhin offen. Der FDP-Politiker begrüßte die Brüsseler Entscheidungen. "Das ist ein geschichtsträchtiger Schritt in Richtung Stabilitätsunion", sagte er bei einem Treffen mit seinem portugiesischen Amtskollegen Paulo Portas in Lissabon. Er gehe nun davon aus, dass die Beschlüsse zügig umgesetzt werden. "Wir haben keine Zeit zu verlieren."
"Großbritannien braucht die EU"
Kritik an der britischen Weigerung, einer Fiskalunion beizutreten, übte auch der Vorsitzende des Europa-Ausschusses im Deutschen Bundestag, Gunther Krichbaum (CDU). "Großbritannien braucht die Europäische Union mehr als die Europäische Union Großbritannien", sagte Krichbaum der "Rheinischen Post". Auch er brachte einen Austritt Londons ins Gespräch. Der Vertrag von Lissabon lasse "ausdrücklich alle Möglichkeiten offen, auch den Austritt eines Landes". Die Briten müssten sich nun entscheiden, ob sie für oder gegen Europa seien.
Unterdessen bezeichneten die Vereinigten Staaten die Ergebnisse des EU-Gipfels als Fortschritt. Zugleich betonte Präsidialamtssprecher Jim Carney, offensichtlich müsse noch mehr getan werden. "Am Ende ist es ein europäisches Problem, das eine europäische Lösung benötigt." Die USA seien der Meinung, dass Europa überzeugend und bestimmt handeln müsse. Auf das Nein Großbritanniens zu einem europäischen Fiskalpakt ging Carney nicht ein.
Wirtschaft lobt Gipfelbeschlüsse
Auch in Wirtschaftskreisen stießen die Ergebnisse des Brüsseler Gipfels auf ein positives Echo. "Es ist der erste der europäischen Krisengipfel, nach dem die Finanzmärkte nicht sagen werden: Zu wenig und zu spät", sagte Deutsche-Bank-Chefvolkswirt Thomas Mayer der "Passauer Neuen Presse". Es sei auch der erste Gipfel gewesen, der nicht aktuelles Krisenmanagement betrieben, sondern nach vorne geschaut habe.
Auch der Wirtschaftsweise Wolfgang Franz sprach von einem Weg in die richtige Richtung. Die Länder müssten jetzt nicht nur auf einen soliden Kurs der Haushaltskonsolidierung einschwenken, sondern auch ihre Wirtschaftskraft mit durchgreifenden Reformen stärken, sagte der Vorsitzende des Sachverständigenrates dem "Südkurier".
Britischer Schatzkanzler: Werden nicht an Einfluss verlieren
Großbritannien befürchtet trotz der Distanzierung von den neuen EU-Verträgen für eine strengere Haushaltspolitik keinen Einfluss-Verlust. Durch die Blockadehaltung beim EU-Gipfel in Brüssel habe Premierminister David Cameron sichergestellt, dass die Krise des Euro Länder ohne die Einheitswährung nicht mitziehen könne, sagte Schatzkanzler George Osborn in einem Interview des Senders BBC. Cameron habe die Finanzdienstleistungsbranche geschützt und gleichzeitig dafür gesorgt, dass britische Firmen weiterhin ihre Produkte in Europa verkaufen könnten.
Auf dem Weg zu einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik
Die EU-Staaten hatten sich darauf verständigt, den Umbau der Eurozone hin zu einer gemeinsamen Haushalts- und Wirtschaftspolitik voranzutreiben - allerdings um den Preis einer drohenden Abspaltung Großbritanniens von der EU. Auf dem Krisengipfel in Brüssel vereinbarten die 17 Euro-Staaten zusammen mit Nicht-Euro-Ländern der EU einen Vertrag, der verschärfte Spar- und Kontrollauflagen für die Haushalte der Nationalstaaten vorsieht.
Die von Deutschland und Frankreich geforderte Änderung des EU-Vertrages aller 27 Mitgliedstaaten scheiterte aber vor allem am Widerstand Großbritanniens. Dem "Euro-Plus"-Vertrag wollen, neben den Euro-Staaten, nach Beratungen in den nationalen Parlamenten auch alle EU-Staaten ohne Eurowährung bis auf Großbritannien beitreten.