Sachverständigenrat sagt 3,7 Prozent Wachstum voraus "Früchte der Reformen vorheriger Regierungen"
Ob Gesundheit, Steuern oder Bildung: Trotz ihrer optimistischen Prognose von 3,7 Prozent Wachstum in diesem Jahr sehen die Wirtschaftsweisen großen Reformbedarf - und kritisieren die Regierung deutlich: Die Koalition ernte "jetzt die Früchte der Reformpolitik der vorherigen Regierungen", tue aber selbst zu wenig.
Trotz des kräftigen Aufschwungs sehen die fünf Wirtschaftsweisen einen großen Reformbedarf in Deutschland. "Die Chancen für einen stabilen Aufschwung stehen nicht schlecht", heißt es im Herbstgutachten des Sachverständigenrates. "Von einem neuen 'Wirtschaftswunder' kann aber keine Rede sein." Die vom Export getriebene Erholung könne schnell vorbei sein. Sie verlangen deshalb ein höheres Reformtempo. Notwendig sei etwa eine Bildungsoffensive, um ein "Abrutschen der deutschen Volkswirtschaft" zu verhindern. Der Koalition werfen die Experten vor, "jetzt die Früchte der Reformpolitik der vorherigen Regierungen" zu ernten, aber selbst zu wenig zu tun.
Die Professoren rechnen für 2010 mit einem Anstieg des Bruttoinlandsproduktes um 3,7 Prozent und für 2011 um 2,2 Prozent, heißt es in dem Herbstgutachten mit dem Titel "Chancen für einen stabilen Aufschwung". "Der Aufschwung setzt sich fort, wenn auch mit etwas abnehmender Kraft", heißt es darin. "Die durch die Krise entstandenen Produktionseinbußen werden Ende des Jahres 2011 vollständig ausgeglichen sein." Die Bundesregierung ist einen Tick pessimistischer als ihre Berater. Sie geht lediglich von einem Wachstum von 3,4 und 1,8 Prozent aus.
Der Sachverständigenrat rechnet für das kommende Jahr mit einer geringeren Dynamik bei Exporten und Investitionen. Dafür dürfte der private Konsum spürbar zulegen - vor allem, weil die Zahl der Arbeitslosen erstmals seit 1992 unter drei Millionen liegen werde.
16,5 Prozent Mehrwertsteuer auf alles
Die Wirtschaftsweisen machen sich für die Einführung eines einheitlichen Mehrwertsteuersatzes stark. Die ermäßigten Sätze müssten vollständig abgeschafft und der reguläre Mehrwertsteuersatz zugleich auf 16,5 Prozent gesenkt werden. "Dies wäre dann ein echter Befreiungsschlag im Dickicht der Umsatzbesteuerung." Zwar würden die einkommensschwachen Haushalte bei einer derartigen Reform etwas stärker belastet. Die Zusatzbelastungen fielen aber so gering aus, "dass sie angesichts der Vorteile im Hinblick auf die Vereinfachung und die Effizienz des Steuersystems auch ohne kompensierende Maßnahmen hingenommen werden können". Allerdings teilen nicht alle Wirtschaftsweisen diese Ansicht: Der Würzburger Professor Peter Bofinger wies darauf hin, dass gerade für Familien die Belastung höher ausfallen könnte als angenommen.
Die Wirtschaftsweisen kritisieren die zahlreichen Ausnahmen vom regulären Mehrwertsteuersatz, die weit über Lebensmittel hinausgehen. So ließen sich Vergünstigungen für kulturelle Leistungen durchaus mit sozialpolitischen Argumenten begründen. "Die ermäßigte Besteuerung von Beherbungsdienstleistungen und Schleppliften lässt sich hiermit allerdings kaum rechtfertigen", schrieben sie. Die Einführung des niedrigen Mehrwertsteuersatzes für die Hoteliers bezeichneten die Sachverständigen als "Sündenfall".
Obwohl der Aufschwung unerwartet viel Geld in die Staatskassen spült, sprechen sich die Wirtschaftsweisen gegen rasche Senkungen der Einkommenssteuer aus. Vorrang habe die Sanierung der Staatsfinanzen. Die Neuverschuldung werde in diesem Jahr mit 3,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes noch über dem Grenzwert von drei Prozent liegen, den die EU-Vertrage erlauben. 2011 dürfte der Maastrichter Vertrag aber mit einem Minus von 2,4 Prozent wieder eingehalten werden.
Die Wirtschaftsweisen begutachten seit 1963 die ökonomische Entwicklung im Auftrag der Bundesregierung. Neben dem im März ausscheidenden Vorsitzenden Wolfrgang Franz gehören dem Gremium die Ökonomen Claudia Buch, Peter Bofinger, Christoph Schmidt und Lars Feld an.
Die Mitglieder werden von der Bundesregierung vorgeschlagen und vom Bundespräsident berufen. Ihr Gutachten dient ebenso wie das Gemeinschaftsgutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute als Grundlage für die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung.
Weise fordern "Bildungsinvestitionen"
Um die Basis für einen dauerhaften Aufschwung zu legen, fordern die Weisen eine Bildungsoffensive. Das allgemeine Bildungsniveau in Deutschland, "welches im internationalen Vergleich nur mittelmäßig abschneidet", müsse gehoben werden. Dazu müsse Chancengleichheit für Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Schichten hergestellt werden, die heute bei gleicher Intelligenz viel seltener einen höheren Abschluss erreichen als Söhne und Töchter von Bildungsbürgern. "Bildungsinvestitionen sollten möglichst früh im Bildungszyklus einsetzen, beispielsweise in Form eines verpflichtenden Vorschuljahres, flächendeckender Ganztagsschulen und eines flexibleren Übergangs zwischen einzelnen Bildungsabschnitten", fordern die Experten.
Bürgerpauschale im Gesundheitssystem
Die Wirtschaftsweisen plädieren auch für eine Reform des Gesundheitssystems. Einsparungen und höhere Beitragssätze reichten nicht aus, um die Finanzierung dauerhaft auf sichere Füße zu stellen. Der Sachverständigenrat schlägt stattdessen vor, gesetzliche und private Krankenkassen über eine Bürgerpauschale zusammenzuführen. Die Kassen sollen zugleich mehr Macht bekommen, um mit Ärzten, Krankenhäusern und anderen Leistungserbringern besser über Preise, Mengen und Qualität verhandeln zu können.