Kämpfe um Aleppo Warum die Dschihadisten wieder auf dem Vormarsch sind
Zuletzt wurde über den Konflikt in Syrien wenig gesprochen. Nun eskaliert die Situation wieder. Die Offensive der Dschihadisten überraschte die Regierungstruppen. Wie konnte es dazu kommen?
Lange war es relativ still um das Bürgerkriegsland Syrien. Nach Jahren der Kämpfe mit Rebellengruppen war es Machthaber Baschar al-Assad mithilfe seiner Verbündeten gelungen, die Kontrolle über weite Teile des Landes wieder zu erlangen. Seit einigen Tagen kommt es aber erneut zu heftigen Kämpfen zwischen den Konfliktparteien, es gibt zahlreiche Tote. Was ist aktuell über die Lage im Land bekannt und wie war die Situation bislang?
Was ist in den vergangenen Tagen passiert?
Seit dem 27. November kommt es im Nordwesten Syriens rund um die Regionen Idlib und Aleppo zu den heftigsten Kämpfen seit 2020. Eine Allianz der Rebellentruppen unter der Führung der Dschihadistengruppe Haiat Tahrir al-Scham (HTS) hat mit ihrer Großoffensive die Streitkräfte der syrischen Regierung überrascht. Sie nennt diese Offensive "Abschreckung der Aggressionen".
Wie die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit Sitz in London, deren Angaben nicht unabhängig überprüft werden können, berichtet, ist es den Aufständischen innerhalb weniger Tage gelungen, etwa 50 Ortschaften im von der syrischen Regierung kontrollierten Norden unter ihre Kontrolle zu bringen. Auch große Teile der zweitgrößten Stadt des Landes, Aleppo, hätten sie eingenommen. Demnach flohen der Gouverneur sowie Vertreter der Sicherheitskräfte aus dem Stadtzentrum, die Regierungstruppen hätten sich zurückgezogen.
Kurdische Milizen nutzten offenbar das Machtvakuum aus und besetzten nach Angaben von Aktivisten den Flughafen von Aleppo.
Das syrische Militär kündigte bereits eine Gegenoffensive an. Berichten zufolge zieht die Armee ihre Truppen im Osten der Stadt für einen Gegenschlag zusammen. Rückendeckung bekommen die Streitkräfte vom langjährigen Unterstützer Russland. Russische Jets griffen Dutzende Ziele in Idlib, im Umland von Aleppo und - nach Angaben von Aktivisten - zum ersten Mal seit 2016 auch die Millionenstadt selbst aus der Luft an. Bei den Kämpfen in den vergangenen Tagen wurden zahlreiche Menschen getötet, darunter auch Dutzende Zivilisten.
Wer sind die Konfliktparteien in Syrien?
Der Bürgerkrieg in Syrien begann 2011, nachdem Präsident Baschar al-Assad Proteste gegen die Regierung mit Gewalt niederschlagen ließ. Bewaffnete oppositionelle Rebellengruppen, unter ihnen auch Islamisten, konnten den Druck über Jahre aufrecht erhalten, sodass das Assad-Regime Gefahr lief, die Kontrolle zu verlieren.
Daher stiegen einige Jahre später weitere Parteien in den Krieg mit ein: Assad wurde ab 2013 von der vom Iran finanzierten libanesischen Hisbollah-Miliz sowie den iranischen Revolutionsgarden unterstützt, seit 2015 steht auch Russland an seiner Seite.
Die Oppositionskräfte wurden teils von der Türkei unterstützt. Eine weitere Konfliktpartei in Syrien sind die Kurden, die ebenfalls Gebiete - im Nordosten des Landes - kontrollieren.
Zwischenzeitlich standen Teile Syriens zudem unter der Herrschaft der Terrororganisation IS. Sie wurde aber militärisch verdrängt und agiert - mittlerweile wieder verstärkt - aus dem Untergrund.
Hunderttausende Menschen wurden im Zuge des Konflikts getötet, wobei die genauen Zahlen unklar sind: Die Vereinten Nationen sprechen von mehr als 350.000 Toten, die Aktivisten der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte von mehr als 600.000 - unter den Getöteten sind zahlreiche Zivilisten. Millionen von Menschen sind zudem seit Jahren auf der Flucht.
Die von verschiedenen Kräften kontrollierten Gebiete in Syrien, auf Basis der Daten von 2021.
Warum flammt der Konflikt jetzt auf?
Durch den Ausbruch des Krieges in der Ukraine im Februar 2022 schrumpfte die militärische Unterstützung des Assad-Regimes durch Russland. Moskau zog die Truppen zwar nicht komplett aus Syrien ab, verringerte aber ihre Präsenz.
Hinzu kommt die Schwächung der iranischen Revolutionsgarden und der Terrororganisation Hisbollah durch den Krieg mit Israel. Die israelische Armee hatte sie in den vergangenen Wochen zudem auch in Syrien gezielt angegriffen. Vor diesem Hintergrund ist Syriens Machthaber Assad plötzlich in der Defensive.
Der HTS und die von der Türkei unterstützte Syrian National Army (SNA) hätten eine Schwächephase von Assad ausgenutzt, meint auch André Bank, Direktor des GIGA-Instituts für Nahost-Studien in Hamburg, im Interview mit tagesschau24. "Auch Assad ist massiv geschwächt, der Nimbus der Unbesiegbarkeit des Regimes ist schon länger am bröckeln", sagt Bank. Die wirtschaftliche Lage im Assad-Gebiet sei so schlecht wie nie seit 2011.
Die dschihadistischen Rebellen erklärten, die Offensive sei eine Reaktion auf die in den vergangenen Wochen verstärkten Angriffe der russischen und syrischen Luftstreitkräfte auf Zivilisten im Süden der Provinz Idlib. Zudem wollten sie nach eigenen Angaben möglichen Angriffen der syrischen Armee zuvorkommen, die, wie sie mitteilten, Truppen in der Nähe der Frontlinien zusammenziehe.
Nach Angaben der Rebellen wurden seit Jahresbeginn bei Drohnenangriffen auf von den Aufständischen gehaltene Dörfer mehr als 80 Menschen getötet, die meisten von ihnen Zivilisten. Die syrische Regierung bestreitet hingegen, wahllos auf Zivilisten loszugehen. Die Angaben beider Seiten sind nicht unabhängig überprüfbar.
Wer ist HTS?
Haiat Tahrir al-Scham wird als der Nachfolger der Nusra-Front angesehen, des syrischen Ablegers des Terrornetzwerks Al-Kaida. Seither hat die Gruppe ihren Namen mehrmals geändert und sich von Al-Kaida distanziert. Über die nordwestliche Provinz Idlib hält sie seit Jahren die Kontrolle.
Rückendeckung erhalten die Dschihadisten offenbar von der Türkei, davon ist der Leiter der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, Ramy Abdel Rahman überzeugt: "Die Türkei weiß über die Operation Bescheid, sie kennt ihre Einzelheiten und hat grünes Licht gegeben."
Wie war der Status quo im Land bislang?
Im Norden Syriens gilt seit 2020 ein von der Türkei und Russland vermittelter Waffenstillstand, der zwar immer wieder gebrochen wurde, aber die Region in den vergangenen Jahren weitgehend beruhigt hatte.
Die Fronten hatten sich zuletzt kaum verändert: Etwa zwei Drittel des Landes stehen unter der Kontrolle des Assad-Regimes, darunter auch die Region Aleppo. Die Dschihadisten halten Gebiete in der Provinz Idlib, Kurdenmilizen Gebiete im Nordosten. Außerdem besetzt die Türkei Teile Syriens in der Grenzregion, beziehungsweise unterstützt Rebellen in dem Gebiet.
Warum ist Aleppo so wichtig?
Die Stadt Aleppo hatte vor dem Bürgerkrieg etwa 1,7 Millionen Einwohner und war somit nach Damaskus die zweitgrößte des Landes. Zudem war sie eine bedeutende Wirtschaftsmetropole.
Bereits 2012 gelang es den oppositionellen Truppen, Teile Aleppos einzunehmen. In Folge dessen kam es zu heftigen Kämpfen um die Stadt, da es für Assads Regime von großer Bedeutung war, die größten Städte des Landes zu halten. Erst Ende 2016 konnten Regierungstruppen die östlichen Gebiete zurück erorbern. Aleppo wurde jedoch großflächig zerstört, Tausende Bewohner wurden vertrieben.
Mit Informationen von Moritz Behrend, ARD Kairo