Baden-Württemberg Erster Krankheitstag künftig unbezahlt? Diskussion um Krankenstand auch in BW
Kaum sind wir nach den Feiertagen im Arbeitsleben zurück, gibt es eine Aufregerdebatte. Am ersten Krankheitstag soll es keinen Lohn mehr geben. Das fordern zumindest manche.
Am ersten Krankheitstag sollen Arbeitnehmer keinen Lohn mehr bekommen. Dieser Vorschlag von Allianz-Chef Oliver Bäte hat zu Beginn des neuen Arbeitsjahres direkt eine große Diskussion ausgelöst. Professor Bernd Raffelhüschen von der Uni Freiburg geht sogar weiter und fordert drei unbezahlte Krankheitstage. Mercedes-Benz-Chef Ola Källenius schließt sich an, er ärgert sich über hohe Krankenstände hierzulande. Ein Stuttgarter Arbeitsrechtler hält die Forderung für rechtlich schnell umsetzbar. Gewerkschaften sind entrüstet.
Woher rührt die Forderung?
Der Chef der Allianz-Gruppe Oliver Bäte bezeichnete Deutschland als "Weltmeister bei den Krankheitstagen". Das sagte er in einem Interview mit dem Handelsblatt. Dadurch kämen hohe Kosten auf das ganze System zu. Arbeitgeber würden hierzulande jährlich 77 Milliarden Euro Gehälter für krankgeschriebene Mitarbeiter zahlen. Weitere 19 Milliarden Euro kommen laut Bäte von den Krankenkassen dazu. Würde sein Vorschlag umgesetzt, könnten pro Jahr 40 Milliarden Euro eingespart werden.
Welche Änderung an der Rechtslage fordert Bäte genau?
In Deutschland übernimmt der Arbeitgeber bislang nach § 3 Entgeltfortzahlungsgesetz (EntgFG) ab dem ersten Krankheitstag die Lohnfortzahlung für bis zu sechs Wochen. Nach sechs Wochen übernimmt die Krankenkasse, allerdings mit einem reduzierten Betrag, dem sogenannten Krankengeld.
Allianz-Chef Bäte fordert jetzt, einen sogenannten Karenztag bei Krankmeldungen wieder einzuführen. Arbeitnehmer würden also am allerersten Tag einer Krankheit keine Lohnfortzahlung bekommen. Einen solchen Karenztag gab es früher in Deutschland. Er wurde allerdings in den 1970er Jahren abgeschafft. Es gibt ihn derzeit in Schweden, Spanien oder Griechenland.
Könnte ausbleibendes Geld den hohen Krankenstand in Deutschland überhaupt senken? Darüber hat SWR Aktuell-Moderator Andreas Fischer mit Günter Neubauer gesprochen, er ist Direktor des Instituts für Gesundheitsökonomik in München.
Wer springt ihm aus BW zur Seite?
Unterstützung bekommt Bäte gleich mehrfach aus Baden-Württemberg. Wirtschaftswissenschaftler Bernd Raffelhüschen von der Uni Freiburg geht nämlich weiter und fordert sogar drei unbezahlte Krankheitstage. Aus seiner Sicht sind Karenztage ein guter Weg, um selbst zu entscheiden, ob man arbeitsfähig ist oder nicht. Zudem, sagte er auf SWR-Anfrage, müssten sich die gesetzlich Versicherten mehr bei den Arzneimittel- und Arztkosten beteiligen. Sein Vorschlag: Patientinnen und Patienten sollten etwa die ersten 1.000 Euro bei Behandlungen jährlich oder immer ein Fünftel der Kosten für Medikamente tragen.
Bernd Raffelhüschen, Wirtschaftswissenschaftler und Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, sitzt vor einer an die Wand projizierten Statistik. Er ist sich sicher, dass die Verrentung der geburtenstarken Jahrgänge der Wirtschaft Probleme machen wird.
Der Ökonom Nicolas Ziebarth vom Mannheimer Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) sagte kürzlich der "Welt am Sonntag", mit einer abgesenkten Lohnfortzahlung werde es weniger Menschen geben, die sich krankmeldeten, obwohl sie nicht krank seien.
Auch Mercedes-Chef Ola Källenius unterstützt den Vorschlag. Er sagt, es habe wirtschaftliche Folgen, wenn der Krankenstand in Deutschland teils doppelt so hoch ist wie im europäischen Ausland. Bereits im Dezember monierte er, es sei hierzulande zu leicht, sich krankzuschreiben.
Wie sieht es ein Arbeitsrechtler?
Eine Umsetzung der Forderung wäre rechtlich sehr einfach, sagt der Stuttgarter Arbeitsrechtler Stefan Nägele. In § 3 EntgFG könnte man, wie in Schweden, eine Lohnfortzahlung erst ab dem zweiten Tage festlegen. Er selbst hält auch mehr als einen Karenztag für sinnvoll. Er befürchtet aber, dass gerade diejenigen, die eine solche Regelung abschrecken soll, sich dann für eine längere Zeit als nur einen Tag wie einen Brückentag krankschreiben lassen.
Nägele zeigt Unverständnis dafür, warum den Arbeitgebern das Krankheitsrisiko der Arbeitnehmer aufgebürdet wird. Dafür gebe es Krankenkassen, und auch dort würden Arbeitgeber die Hälfte der Beiträge stemmen.
Was sagt die Landesregierung?
Das BW-Wirtschaftsministerium sagte, dass kranke Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu Hause bleiben sollten. So könne bestmöglich vermieden werden, dass Kollegen angesteckt werden. "Der hohe Krankenstand in Deutschland ist in der Tat ein Problem", so das Ministerium. Es wäre gut, wenn alle Beteiligten ein "schlüssiges Gesamtkonzept" finden würden, sagte ein Sprecher des Wirtschaftsministeriums. Unabhängig davon stünde es Unternehmen jedoch heute schon frei, ab dem ersten Krankheitstag eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu fordern.
Was sagen Gewerkschaften dazu?
Die Gewerkschaften zeigen sich nach dem Vorschlag empört. Kai Burmeister, der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes Baden-Württemberg, sagte dem SWR: "Wer damit droht, Beschäftigte fürs Kranksein zu bestrafen, treibt noch mehr Menschen krank zur Arbeit." Schon jetzt kämen viele Menschen zur Arbeit, obwohl sie krank seien, mit der Konsequenz, dass Beschäftigte Krankheiten verschleppen oder Kolleginnen und Kollegen anstecken.
Dabei verweist Burmeister auf eine repräsentative Umfrage, wonach Beschäftigte im Schnitt fast neun Arbeitstage pro Jahr trotz Erkrankung gearbeitet haben. Anstatt das Kranksein zu bestrafen, sollte mehr für den Gesundheitsschutz in den Betrieben getan werden, fordert er.
DGB-Bundes-Vorstandsmitglied Anja Piel verwies zudem auf Statistiken der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), wonach der Krankenstand in Deutschland kein Rekordniveau erreicht hat. Demnach sind die von den Krankenkassen gemeldeten Höchstwerte für das Jahr 2024 vor allem eine Folge der besseren Erfassung von Krankheitstagen und somit ein statistischer Effekt.
Auch Jutta Kaiser aus der SWR-Wirtschafsredaktion hält den Vorschlag für keine gute Idee. Dafür hat sie drei Gründe:
Wie hoch ist der Krankenstand in BW eigentlich?
Im ersten Halbjahr 2024 belief sich der durchschnittliche Krankenstand in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) deutschlandweit auf rund 5,8 Prozent. Der Krankenstand gibt an, wie viel Prozent der Erwerbstätigen in einem bestimmten Zeitraum durchschnittlich arbeitsunfähig erkrankt waren. Nachdem er während der letzten rund 20 Jahre konstant unter 4,5 Prozent gelegen hatte, ist er seit der Corona-Pandemie sehr stark gestiegen.
Immerhin: In Baden-Württemberg sind die Menschen seltener krank als im Bundesschnitt, das zeigt der Blick in die Zahlen des statischen Landesamts. Für das vergangene Jahr lag der Wert 0,2 Prozentpunkte tiefer und damit bei 5,6 Prozent. Und auch in den vergangenen 25 Jahren galt, der BW-Wert liegt immer unter dem Bundesschnitt.
Sendung am Di., 7.1.2025 6:00 Uhr, SWR4 BW am Morgen, SWR4 Baden-Württemberg