Baden-Württemberg Frau stirbt nach Narkose bei Zahnarzt in Mannheim - Urteil erwartet
Ein Zahnarztbesuch hat eine 42-Jährige 2019 in Mannheim das Leben gekostet. Sie starb nach schweren Fehlern des Narkosearztes. Er erhielt lediglich einen Strafbefehl. Ein Fehler?
Lisa P. (Name geändert) hatte Parodontitis. Eine Volkskrankheit. Millionen Menschen in Deutschland leiden an mehr oder weniger schlimmen Formen dieser Entzündung im Mund. Parodontitis betrifft umgangssprachlich das Zahnfleisch, Raucher und ältere Menschen sind besonders betroffen, auch Zahnstein begünstigt die Krankheit.
Bei Lisa P. war die Parodontitis schon sehr weit fortgeschritten, auch wenn sie erst Anfang 40 war. Ihr Zahnarzt, Mitarbeiter einer Zahnarztpraxis in Mannheim, die zu einem bundesweit tätigen Netzwerk gehört, plante einen radikalen Schritt: Praktisch alle Zähne sollten gezogen und durch Implantate ersetzt werden. Ein Eingriff, der acht Stunden dauern und in der Zahnarztpraxis unter "Intubationsnarkose", also Vollnarkose, erfolgen sollte. Doch Lisa P. wachte nie mehr auf. Sie starb rund zwei Wochen nach Beginn der Operation. Schuld daran war nicht der Zahnarzt, sondern der Narkosearzt. Dr. W. aus Südhessen. Er trug die Verantwortung für die Narkose.
Prozess gegen Narkosearzt am Landgericht Frankfurt
Exakt dieser Dr. W. muss sich zur Zeit vor dem Landgericht Frankfurt am Main wegen weiterer mutmaßlicher Zwischenfälle bei von ihm durchgeführten Narkosen verantworten. Im Jahr 2021, zwei Jahre nach dem Tod von Lisa P., starb ein vierjähriges Mädchen mit dem Namen Emma (Name geändert) nach der Behandlung durch ihn im hessischen Kronberg (Hochtaunuskreis). Mindestens fünf weitere Menschen, die seine Patienten waren, darunter vier Kinder, wurden schwer, teilweise lebensbedrohlich krank.
Gemeinsames Muster in verschiedenen Fällen
SWR-Recherchen legen nahe: Die Fälle und die mutmaßlichen Fehler von Dr. W. haben ein gemeinsames Muster. Und Dr. W. konnte die 2021 verstorbene Emma und die weiteren, schwer erkrankten, Patienten nur deshalb noch behandeln, weil die Staatsanwaltschaft Mannheim den Tod von Lisa P. offenbar eher als ein bedauerliches Versehen einordnete, keine Gefahr für weitere Patienten sah - und nicht mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln eingriff. War die Staatsanwaltschaft zu nachsichtig mit dem langjährig praktizierenden und vermeintlich erfahrenen Arzt? Hat sie möglicherweise einen Mord übersehen?
Sie werden beschuldigt, durch Fahrlässigkeit den Tod eines anderen Menschen verursacht zu haben Strafbefehl des Amtsgerichts Mannheim gegen W. (Az. Cs 200 Js 32328/19)
Das steht im Strafbefehl des Amtsgerichts Mannheim gegen Dr. W. (Az. Cs 200 Js 32328/19).
Ein Strafbefehl ist ein verkürztes Strafverfahren, in dem die Staatsanwaltschaft keine öffentliche Verhandlung für notwendig hält. Bei Unfällen im Straßenverkehr passiert das sehr häufig - auch wenn es Tote gegeben hat. Doch wenn der Tod eines Menschen fahrlässig verursacht wurde und die Sachlage sehr eindeutig ist, beispielsweise bei einem Augenblicksversagen im Straßenverkehr, kann durch den Strafbefehl der Justiz und dem Beschuldigten ein aufwändiges Verfahren erspart werden.
Die Staatsanwaltschaft beantragt dann eine Strafe in Form von Tagessätzen und legt je nach Einkommen des Täters die Höhe des Tagessatzes fest. So errechnet sich die Geldstrafe. Stimmt der Beschuldigte zu und bezahlt die Strafe, ist die Sache erledigt.
Berufsverbot erst nach langem Verfahren
In bestimmten Fällen kann im Strafbefehl auch eine Nebenfolge ausgesprochen werden. Der Einzug der Fahrerlaubnis beispielsweise oder das Verbot, Kampfhunde zu halten. Einem Arzt die Ausübung des Berufs zu verbieten, ermöglicht das Strafbefehlsverfahren aber nicht.
Trotzdem kann es auch nach einem Strafbefehl dazu kommen - durch ein Verwaltungsverfahren. Doch das dauert länger, vor allem, wenn der Arzt anwaltlich gut beraten ist und Widerspruch einlegt. Im Fall von Dr. W. führte der Strafbefehl wegen des Todes von Lisa P. nach langem Tauziehen zu einem Berufsverbot durch die hessische Aufsichtsbehörde. Denn dort sah man seinen Fehler als schwerwiegend an. Die kleine Emma durfte er allerdings noch behandeln.
Haftbefehl gegen den Arzt
Die Frage, ob der Tod der kleinen Patientin für sich betrachtet eine vermeidbare Tragödie war, muss nun am Freitag das Landgericht Frankfurt beurteilen, wenn es sich mit den Details der Behandlung auseinandersetzt. Solange Dr. W. in diesem Verfahren nicht verurteilt ist, gilt für ihn die Unschuldsvermutung.
Allerdings hat das Frankfurter Gericht im Laufe des Prozesses die Sachlage so bewertet, dass es zunächst Dr. W. den Hinweis gab, dass der Vorwurf juristisch schwerer wiegen könnte, als zunächst vermutet. Im weiteren Verlauf gab es dann sogar einen Haftbefehl gegen den Arzt, der unter Auflagen außer Vollzug gesetzt wurde. Ein deutliches Zeichen, dass die Kammer den Fall inzwischen gravierender einschätzt als zu Beginn des Prozesses.
Die Staatsanwaltschaft sieht den Fall inzwischen sogar als Mord an und verlangt eine lebenslange Freiheitsstrafe. Dr. W. habe versucht, eine eigene Straftat - nämlich grobe ärztliche Fehler - zu verdecken, indem er die Hilfe für das Kind hinausgezögert habe. Verdecken einer Straftat, das ist ein Mordmerkmal. Auf Anfrage des SWR erklärte der Anwalt von Dr. W., er und sein Mandant würden derzeit keine Fragen beantworten.
Operation im Jahr 2019 in Mannheim wirft weitere Fragen auf
Auch die Umstände des Todes von Lisa P. sehen bei genauerem Hinsehen weit gravierender aus, als es in der zweiseitigen Zusammenfassung der Ereignisse im Strafbefehl steht. Doch diese Umstände sind nie öffentlich vor Gericht diskutiert worden. Und dass Dr. W. stundenlang darauf verzichtete, Lisa P. ins Krankenhaus bringen zu lassen ist - soweit erkennbar - von der Staatsanwaltschaft nicht unter dem Blickwinkel eines vorsätzlichen, also absichtlichen Tötungsdelikts betrachtet worden. Versuche des SWR, mit der Staatsanwaltschaft über ihre Ermittlungen zu sprechen, scheitern fast ausnahmslos. Dabei wirft schon der Ablauf der Ereignisse Fragen auf.
Gefährliche Narkose für adipöse Patientin
Bereits zu Beginn der Operation will Dr. W. das Risiko für seine Patientin erkannt haben. Für ihre Größe war sie weit überdurchschnittlich schwer, hatte eine "Adipositas Grad III", wie es Ärzte nennen. Schon deshalb war sie eine Hochrisikopatientin für eine acht Stunden lange Vollnarkose. Nach ihrem Tod schrieb ein Gutachter der Uniklinik Heidelberg den Ermittlern, dass eine mehr als dreistündige OP im ambulanten Bereich in Deutschland nicht empfohlen und eine mehr als vierstündige OP nach seinem Kenntnisstand in den USA in manchen Bundesstaaten sogar verboten wäre.
Drei Stunden hatte der Zahnarzt bereits operiert, als die Probleme begannen. Der Zustand der Patientin verschlechterte sich rapide, sie erlitt einen Herzstillstand und musste auf dem Zahnarztstuhl reanimiert werden. Nach vermutlich neun Minuten gelang um 11:42 Uhr die Wiederbelebung. Notarzt und Rettungsdienst wurden allerdings nicht gerufen, auf eine sofortige Verlegung ins Krankenhaus wurde verzichtet. Stattdessen setzte der Zahnarzt ab 12:15 Uhr seine Operation fort, um schnellstmöglich alle offenen Wunden zu verschließen. Um 13:28 Uhr war seine OP beendet. Doch es dauerte nochmals rund zweieinhalb weitere Stunden, bis schließlich der Rettungsdienst gerufen wurde.
Schäden nach Reanimation?
Ärzte, die mit dem Fall zu tun hatten, sagen dem SWR: Möglicherweise war Lisa P. bereits zum Zeitpunkt der zunächst gelungenen Reanimation bleibend geschädigt. Aber das vollständige Instrumentarium moderner Intensivmedizin hätte ihr noch Chancen geboten. Darauf aber vier Stunden lang zu verzichten, sei keinesfalls nachvollziehbar und ein schwerer Fehler. Hoffte Dr. W., mögliche Fehler durch Zeitablauf verdecken zu können?
Wie Ärzte ihre Patienten bestmöglich behandeln, kann von vielen Faktoren abhängen. Oft gibt es mehr als eine Möglichkeit und kein klares Richtig oder Falsch. "Leitlinien" der ärztlichen Fachgesellschaften sollen Anhaltspunkte geben, strenge Gesetze sind sie aber nicht. Im Fall Lisa P. hätte die Leitlinie zur Reanimation mehrere Untersuchungen für zwingend nötig gehalten, die in der Arztpraxis nicht möglich waren. Entsprechend wäre die sofortige Verlegung ins Krankenhaus und notärztliche Hilfe "alternativlos" gewesen, sagt ein Mediziner, der mit dem Vorgang befasst war. Dr. W. sah das wohl fast bis zuletzt anders.
3.000 Euro in bar zurückgegeben
Den Ermittlern übergab er ein Gedächtnisprotokoll, in dem er aus der Erinnerung seine Behandlung schildert und nicht mit kritischen Kommentaren über den eintreffenden Notarztkollegen und die "hektische" Stationsärztin an der Universitätsmedizin spart. Das Protokoll liegt dem SWR vor. Selbstbewusst notiert Dr. W., dass er dem Ehemann der Patientin noch am Abend im Wartebereich des Krankenhauses die 3.000 Euro in bar zurückgegeben habe, die er morgens für die Narkose bekam und dass ihn die Ärzte auf der Intensivstation unter keinen Umständen zu seiner Patientin lassen wollen. Im Kontext entsteht der Eindruck: Dr. W. verstand offenbar nicht, warum.
Vollnarkose gegen Barzahlung: Was auf den ersten Blick seltsam wirkt, ist kein ungewöhnliches und grundsätzlich erlaubtes Geschäftsmodell von Narkoseärzten und Zahnarztpraxen. Doch es könnte gerade im Fall Lisa P. verhängnisvoll gewesen sein. Bis zum Morgen der OP hatte Dr. W. seine Patientin offenbar noch nie persönlich gesehen. Welche Rolle spielten das erwartete Honorar und mögliche gemeinsame weitere Operationen in der Zahnarztpraxis?
Ein Tagessatz von nur 150 Euro?
Die Staatsanwaltschaft Mannheim hat dem Geld offenkundig keine größere Bedeutung beigemessen. Das Einkommen von Dr. W. hat sie für den Strafbefehl nicht ermittelt, sondern geschätzt. Zur Höhe gibt es offiziell keine Auskunft. Nach SWR-Recherchen wurde jedoch ein Tagessatz von 150 Euro festgelegt. Und das wirft weitere Fragen auf.
Für einen selbständigen Arzt sind 150 Euro Tagessatz erstaunlich wenig Geld, nicht nur, wenn man das konkrete Honorar von 3.000 Euro für die achtstündige Behandlung am Tattag zugrunde legt. Im Verfahren am Landgericht Frankfurt geht es unter anderem um die Frage, ob Dr. W. unzulässig Medikamentenflaschen und anderes Material mehrfach verwendet haben soll. Auch hier taucht die Frage auf: Wenn es so war, dann aus finanziellen Gründen?
Kollegen des Arztes fassungslos
Für diese Frage hat sich die Staatsanwaltschaft Mannheim damals offenbar ebenso wenig interessiert wie für die Einschätzung der Ärzte aus der Universitätsmedizin Mannheim, die tagelang versuchten, Frau P. zu retten. Unter der Zusicherung der Anonymität konnte der SWR mit Ärzten sprechen, die den Fall aus nächster Nähe kennen. Sie sind bis heute fassungslos über ihren Kollegen und wundern sich darüber, dass von den Ermittlern niemand mit ihnen gesprochen hat. Die Staatsanwaltschaft Mannheim sagt dem SWR, ein externer Gutachter der Universitätsmedizin Heidelberg, der das Geschehen aus den Akten nachvollzogen habe, sei ausreichend gewesen.
Die Fragen nach Geld, Risikoabwägung und ärztlichem Selbstverständnis wären in einer Hauptverhandlung vor Gericht öffentlich zur Sprache gekommen.
Statt der Staatsanwaltschaft hatte sich Wochen nach dem Strafbefehl die hessische Aufsichtsbehörde für Ärztinnen und Ärzte um ein Berufsverbot für Dr. W. gekümmert. Doch das Verfahren dauerte, denn Dr. W. legte zunächst noch Widerspruch ein und der hat im Verwaltungsverfahren - anders als beim gerichtlichen Berufsverbot - grundsätzlich eine aufschiebende Wirkung. Deshalb konnte Dr. W. noch monatelang weiter tätig sein. Und unter anderem das vierjährige Mädchen behandeln, dessen Tod nun am Landgericht Frankfurt verhandelt wird. Hält die Staatsanwaltschaft Mannheim vor diesem Hintergrund ihren damaligen Antrag auf Strafbefehl noch für richtig? Die Sprecherin der Behörde sieht das nüchtern: Das sei eine Wertungsfrage, auf deren Beantwortung der SWR keinen Anspruch habe.
Sendung am Do., 31.10.2024 11:30 Uhr, Regionalnachrichten Mannheim