
Baden-Württemberg Neues Schulkonzept in Stuttgart: Wo Kinder immer Bock auf Schule haben
Eine Schule ohne Noten, Kinder, die auf Matratzen lernen und selbst bestimmen, wann sie ihre Klassenarbeiten schreiben - klingt nach Utopie. Gibt es aber mitten in Stuttgart.
Die Schickhardt-Gemeinschaftsschule in Stuttgart-Süd will weg vom klassischen Schulsystem. Dafür hat sie mit Beginn des Schuljahres ein Pilotprojekt in der fünften Klasse gestartet. Ziel ist es, dass die Schülerinnen und Schüler selbstständig lernen und Spaß an der Schule haben. Vorbild ist die mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnete Alemannenschule in Wutöschingen (Kreis Waldshut).
Erste Stunde: Pilates, Singen oder über aktuelle Nachrichten diskutieren
Für Elena, Emmy und Louisa beginnt der Schultag auf Turnmatten. Was gemütlich klingt, geht ganz schön in die Muskeln. Denn die drei haben sich für Pilates entschieden. Die erste Schulstunde der Fünfer ist grundsätzlich fürs "Ankommen" reserviert. Andere Kinder singen in großer Gruppe ihre Lieblingssongs mit Musiklehrer Philipp Seyboldt, lesen oder diskutieren über aktuelle Nachrichtenthemen. Emmy war vor der Schule noch etwas müde, erzählt sie. Jetzt nach dem Pilates sei sie wach und konzentriert. Gleiches gilt für Elena und Louisa.

Emmy sitzt neben Elena. Zwischen den beiden ist ein Sichtschutz. So können beide konzentriert arbeiten. Elena wird als nächstes Mathe lernen. So hat sie es in ihren Wochenplaner eingetragen.
Selbstständiges Lernen im "Lernatelier": Lehrer haben wenig zu tun
In den nächsten zwei Stunden geht es für die drei Mädchen erst einmal ins "Lernatelier". Das ist ein Klassenzimmer, in dem jedes Kind einen Tisch hat. Elena spricht von ihrem "Büro", denn hier findet kein Unterricht statt, stattdessen arbeiten die Kinder selbstständig. Emmy war krank, muss deswegen Mathe aufholen. Sie schaut sich ein Erklärvideo auf einem Tablet an. Elena schreibt erst einmal Englischvokabeln ab. Und Louisa hat Lust, eine Kurzgeschichte zu schreiben.
Auch zwei Lehrer sind im Raum. Doch viel zu tun haben sie nicht. Ab und zu bittet ein Kind um eine Erklärung oder eine Einschätzung. Sonst arbeiten die Kinder selbstständig. Wann sie was machen, entscheiden sie selbst. Im "Schickbook", einer Art Wochenplaner, wird alles geplant und festgehalten. Das Besondere: In dem Raum gibt es kein Getuschel, kein Lästern über Lehrer oder Mitschüler, stattdessen hohe Konzentration. Es ist in etwa so leise wie während einer Klassenarbeit.

Gemütlich und trotzdem konzentriert: Adrian und David lernen Englisch. Flavio macht Mathe.
"Senkrechtstarter" dürfen auf Matratzen lernen
Adrian, David und Flavio sitzen unterdessen auf einer Turnmatratze im Gang. Während David Adrian Englischvokabeln abfragt, lernt Flavio Mathe. Dass die beiden anderen reden, störe ihn nicht, sagt er. Wenige Meter weiter steht ein Tischchen. Dort lernen Ecrin, Leo und Georgie. Auch sie arbeiten selbstständig und konzentriert.
Doch nicht jedes Kind darf sich aussuchen, wo es arbeitet. Das liegt an einem eigenen Belohnungs- beziehungsweise Strafsystem: Während an herkömmlichen Schulen die Kinder vor die Tür müssen, die sich danebenbenommen haben, bekommen an der Schickhardt-Gemeinschaftsschule regeltreue Schülerinnen und Schüler mehr Rechte. Sie können zum Beispiel aussuchen, wo sie mit wem lernen. Dieser Status wird "Senkrechtstarter" genannt. Wer gegen Regeln verstoßen hat, muss hingegen zurück in die "Starthilfe".

Wer sich an die Schulregeln hält, bekommt mehr Rechte. So können Kinder aus der Gruppe der "Senkrechtstarter" beispielsweise selbst wählen, wo sie lernen.
Lernnachweise und Coaching statt Klassenarbeiten und Schulnoten
Eine weitere Besonderheit des Pilotprojekts: Die Fünftklässler schreiben keine Klassenarbeiten. Stattdessen können sie selbst entscheiden, wann sie mit Hilfe von "Lernnachweisen" zeigen können, dass sie den Unterrichtsstoff verstanden haben. Außerdem trifft sich jedes Kind regelmäßig mit einem Lehrer. In den Einzelgesprächen geht es dann um Lernfortschritte, Probleme und mögliche Unterstützung.
Die Nachmittage sind für "Clubs" reserviert - so heißen an der Schickhardt-Gemeinschaftsschule die Nebenfächer. Doch das bedeutet weder Geographie, Bio noch Musik. Stattdessen gehen die Kinder in Theater-, Imker- oder Waldentdecker-Clubs - Pilze züchten und Pizza Funghi backen inklusive.

Sengun ist im Imker-Club. Clubs werden an der Schickhardt-Gemeinschaftsschule am Nachmittag angeboten - statt Nebenfächern.
Neues Schulkonzept an Schickhardt-Gemeinschaftsschule kommt gut an
Doch nicht alles ist anders. Die 15 bis 45 minütigen "Inputs" erinnern zumindest zum Teil an herkömmlichen Unterricht. Lehrer Simon Bart spricht über die Satzstellung im Englischen. Rund 20 Schülerinnen und Schüler sitzen dicht gedrängt rund um eine Tischtennisplatte. Doch keiner kann sich zurücklehnen. Der Lehrer fordert die Schüler, fragt, lobt und ermutigt, als sei er nicht Lehrer, sondern Trainer an eben dieser umfunktionierten Tischtennisplatte.
Bei den Schülerinnen und Schülern kommt das neue Schulsystem gut an. Die elfjährige Adrijana formuliert es so: "Ich habe eigentlich immer Bock auf Schule."
Vorbild: Alemannenschule in Wutöschingen
Das Pilotprojekt läuft erst seit diesem Schuljahr. Der Vorlauf war denkbar knapp. Am 10. Juni 2024 war Schulleiterin Sandra Vöhringer mit einigen Kolleginnen und Kollegen in Wutöschingen. Sie wollten wissen, was die 2019 mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnete Alemannenschule anders macht. Sätze wie "Unterricht ist Zeitverschwendung" und "Wir hindern die Kinder nicht am Lernen" schwirrten der Schulleiterin danach durch den Kopf. Dazu kam: "Die dortigen Kinder haben uns unfassbar beeindruckt." Nach dem Besuch sei klar gewesen: "Es kann nicht anders gehen."
Es ist wahnsinnig schön zu sehen, wie sich die Kinder selbst organisieren. Lehrererin Alexandra Reitze
Mit einem kleinen Team hat Schulleiterin Vöhringer das Pilotprojekt an den Start gebracht. Eine der Mitstreiterinnen ist Lehrerin Alexandra Reitze. Nach sieben Monaten sagt sie: "Es ist eine ganz tolle Art zu lernen und auch zu unterrichten." Dadurch, dass die Kinder eine hohe Selbstständigkeit haben, seien sie hochgradig motiviert. "Sie können etwas erreichen. Sie feiern ihre eigenen Erfolge." Und als Lehrerin freut sie sich über die hohe Konzentration und den wenigen Lärm. "Das ist ein ganz anderer Geräuschpegel."
Für das nächste Schuljahr haben sich über 100 Schüler angemeldet
Der Erfolg scheint der Schule recht zu geben: Rund 80 Anmeldungen gab es dieses Jahr, für das nächste haben sich schon weit mehr als 100 angemeldet.
Sendung am Do., 20.3.2025 19:30 Uhr, SWR Aktuell Baden-Württemberg, SWR BW