Die Verkehrsministerkonferenz sieht die Digitalisierung der Bahninfrastruktur bedroht. (Symbolbild)

Baden-Württemberg Schienennetz der Deutschen Bahn: Digitalisierung erst bis 2050?

Stand: 18.10.2024 14:03 Uhr

Die Verkehrsminister der Länder befürchten, dass sich die Digitalisierung der Bahn-Infrastruktur um gut 15 Jahre verzögern könnte. Sie fordern den Bund auf, schnell zu handeln.

Die Konferenz der Verkehrsminister sieht die Digitalisierung der Bahn-Infrastruktur bedroht. Die Befürchtung sei groß, dass der deutschlandweite Ausbau vom neuen digitalen Zugsicherungssystem ETCS (European Train Control System) und neuer digitaler Stellwerke erst Mitte des Jahrhunderts abgeschlossen werden könnte. Das geht aus dem Beschlusspapier der Verkehrsministerkonferenz hervor, das diese Woche veröffentlicht wurde. Der SWR hatte Anfang September berichtet, dass die Deutsche Bahn die Digitalisierung der Infrastruktur aus Kostengründen vorerst stoppen möchte.

Digitalisierung der Bahn erst Mitte des Jahrhunderts?

Auf der Konferenz wurde bereits vergangene Woche das Thema "Digitale Schiene Deutschland" (DSD) diskutiert. Unter diesem Begriff wird die deutschlandweite Digitalisierung der Bahn-Infrastruktur auf den wichtigsten Verkehrsachsen verstanden. Dadurch soll die Bahn zuverlässiger und die Leistungsfähigkeit gesteigert werden. Fahrgäste sollen dadurch deutschlandweit mehr und pünktlichere Zugverbindungen bekommen.

Das hat die Bahn bisher an Digitalisierung geplant

Was ist die "Digitale Schiene Deutschland"? Unter dem Projekt "Digitale Schiene Deutschland" plant die Deutsche Bahn den Ausbau und die Umstellung des gesamten Schienennetzes auf digitale Technik. Das beinhaltet den Ausbau des neuen digitalen europäischen Zugsicherungssystems ETCS, sowie den Ausbau und das Ersetzen der bisherigen elektronischen Stellwerke durch digitale Stellwerke. Zusammenspiel aus Digitalen Stellwerken und ETCS Nur wenn sowohl die Stellwerkstechnik als auch ETCS parallel in der Infrastruktur ausgebaut werden, ergeben sich die eigentlichen Vorteile der Digitalen Schiene Deutschlands. Das System soll weniger störanfällig sein und Stellwerke können sich gegenseitig bei Engpässen besser unterstützen. Außerdem sollen Kapazitäten gesteigert werden. Laut Bahn könnten auf der bestehenden Infrastruktur dann bis zu 30 Prozent mehr Züge fahren. Ein KI-gestütztes System würde dann dabei helfen, Züge zielgenauer zu steuern. So sollen Bahnen seltener auf offener Strecke zum Stehen kommen, sondern durch angepasste Geschwindigkeiten immer in freien Streckenslots unterwegs sein können.

Die Verkehrsministerkonferenz stellen laut Beschlussfassung fest, dass sich durch die Sanierung der Hochleistungskorridore (gemeint ist die Generalsanierung der Bahn) sowie durch die Haushaltslage im Bund der digitale Bahnausbau in Deutschland verzögert. "Die Realisierung des bundesweiten DSD-Rollout droht somit erst gegen Mitte des Jahrhunderts beendet zu werden", heißt es weiter. Bisher soll das sogenannte "DSD-Rollout" eigentlich bis 2035 abgeschlossen werden.

Anpassungen bei der Digitalisierung der Bahn notwendig

In einem Begleitpapier der Konferenz, das dem SWR vorliegt, wird erklärt, dass der Abschluss der Digitalisierung frühstens 2043 erfolgen würde. Das sei noch eine sehr optimistische Rechnung unter den aktuellen Bedingungen, heißt es aus Konferenzkreisen gegenüber dem SWR. Die Sorge sei groß, dass sich der Ausbau bis 2050 oder länger verzögert. Das sei auf der Konferenz auch deutlich gemacht worden. Denn um das Jahr 2043 überhaupt noch als Ziel schaffen zu können, wären bereits jetzt schon zahlreiche Umstrukturierungen notwendig und Bahn, Bund und Länder müssten gemeinsam und einheitlich an der Digitalisierungsstrategie der Bahn arbeiten. Das sei aber bisher nicht der Fall, so ein Insider gegenüber dem SWR.

Von der Bahn heißt es auf SWR-Anfrage zum Zeitplan bei der Digitalisierung: "Die Deutsche Bahn treibt die Streckenausrüstung mit dem europäischen Zugbeeinflussungssystem ETCS in den kommenden Jahren weiter voran."

Verkehrsminister: Bund muss bei Digitalisierung beschleunigen

Aus der Ministerrunde heißt es weiter: "Die Verkehrsministerkonferenz fordert den Bund auf, sich klar zur Digitalisierung der Schiene zu bekennen, die Finanzierung des bundesweiten DSD-Rollouts sicherzustellen und Maßnahmen zu dessen Beschleunigung zu ergreifen." Es sei wichtig, dass weiterhin an den geplanten Digitalisierungsprojekten festgehalten werde und auch die Fahrzeugflotte schnellstmöglich auf die neue Technik umgerüstet werde.

NRW-Ministerpräsident schreibt an Bundeskanzler Scholz

Schon vor der Verkehrsministerkonferenz hat Ende September der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) einen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) geschrieben. Der Brief liegt dem SWR vor. Darin formuliert Wüst seine Sorge, dass die Digitalisierung gestoppt wird und fordert den Bundeskanzler explizit zum Handeln auf: "... ich bitte Sie an dieser Stelle dafür Sorge zu tragen, dass der Sanierung nicht auf Kosten der Digitalisierung Vorrang gewährt wird." Ansonsten würde die Regierung Gefahr laufen, die wirtschafts-, sozial- und klimapolitischen Ziele im Bereich Mobilität zu verfehlen.

Damit schließt sich Hendrik Wüst seinem baden-württembergischen Amtskollegen Winfried Kretschmann (Grüne) an, der sich bereits im Juni an den Kanzler wandte. Darin schilderte Kretschmann seine Sorge, dass die Bahn die Mittel für die Digitalisierung in die Generalsanierung umleiten möchte. "Bei allem Verständnis dafür, dass das Bestandsnetz hohe Priorität genießt, darf im Poker um die knappen Mittel nicht die wichtige Zukunftsinvestition in die 'Digitale Schiene' geopfert werden." In der Verkehrsministerkonferenz ist dieses Pokerspiel wohl in die nächste Runde gegangen.

Im Rahmen von Stuttgart 21 wird mit dem Digitalen Knoten erstmals ein kompletter Bahnknoten mit der neuen Digitalen Technik und Digitalen Stellwerken ausgerüstet. Es gilt als das Pilotprojekt der Digitalen Schiene Deutschlands, auf das der deutschlandweite Ausbau folgen soll. Die Umsetzung der ersten beiden Elemente des Digitalen Knoten Stuttgarts, der sich bereits im Bau befindet, sind aber von den neuen Plänen der Bahn nicht direkt bedroht. Unklar ist weiterhin, ob die finale dritten Ausbaustufe des Stuttgarter Knotens umgesetzt wird, der auch einen digitalen Ausbau über Stuttgarts Kern hinaus in der Region vorsieht.

SWR berichtete über vorerst gestoppte Digitalisierung

Anfang September berichtete der SWR über die Pläne der Bahntochter DB InfraGO, die Digitalisierung der Infrastruktur vorerst zu stoppen, um unter anderem die Generalsanierung finanzieren zu können. Expertinnen und Experten sowie Politikerinnen und Politiker schlugen daraufhin deutschlandweit Alarm und forderten, dass die Digitalisierung weiter wie geplant fortgesetzt werden müsste.

Deutschland will Bahn-Spitzenreiter bei Digitalisierung werden

Der Bahnverkehr in Deutschland ist in der Fläche lange nicht modernisiert worden. Nach wie vor gibt es Stellwerke aus der Kaiserzeit. Die Sicherungs- und Signaltechnik, die sogenannte punktförmige Zugbeeinflussung, fußt auf einer Technik aus den 1930er-Jahren. Das modernere System "Linienförmige Zugbeeinflussung" ist seit den 1980er-Jahren im Einsatz. Das neue digitale ETCS-System wird bisher nur auf wenigen Strecken in Deutschland eingesetzt - unter anderem auf der ICE-Strecke Wendlingen-Ulm. Zwar ist der Nutzen teilweise umstritten, aber in den Nachbarländern wie der Schweiz oder Österreich ist das System schon weit verbreitet.

Mit der Digitalisierungsstrategie will Deutschland nicht nur gegenüber den Nachbarländern beim ETCS-Ausbau aufholen, sondern auch die Führung eines modernen Bahnsystems in Europa übernehmen, indem erstmals flächendeckend auch digitale Stellwerke zum Einsatz kommen, die in Kombination mit ETCS in den Nachbarländern noch nicht benutzt werden. Dadurch erhofft sich die Bahn noch mehr Vorteile im Bahnverkehr.

Sendung am Fr., 18.10.2024 14:00 Uhr, SWR4 am Nachmittag, SWR4

Mehr zur Digitalisierung bei der Bahn