Berlin Problemkiez Mehringplatz in Berlin: Engel in der Krise
Der Mehringplatz liegt mitten in Berlin, zwischen dem Anfang der Friedrichstraße und dem Kanal. Trotz der zentralen Lage kommt der Platz seit Jahrzehnten nicht aus dem Krisenmodus. Nun wurde ein Teil dringend benötigter Gelder bewilligt. Ist das die Lösung? Von Anna Severinenko
Friedrichstraße 1-3, das klingt erstmal nach einer guten Adresse: zwischen dem jüdischen Museum, der Redaktion der taz und der Galerie König. Hier geht Berlin-Mitte in Friedrichshain-Kreuzberg über. Die Immobilie beherbergt jedoch keine Galerie oder Ähnliches, wie man in dieser Lage denken könnte, sondern mehrere sozialen Einrichtungen – und die werden hier dringend benötigt.
Mehr als ein Viertel der Bewohner der Siedlung bezog im vergangenen Jahr Sozialleistungen, das Gebiet gilt als eines der ärmsten der Stadt. Laut dem Amt für Statistik Berlin-Brandenburg lag im Jahr 2020 der Anteil von Einwohner:innen mit Migrationshintergrund bei mehr als 70 Prozent, mehr als die Hälfte der Kinder gilt als arm. Für die gesamte Nachbarschaft spielen die sozialen Einrichtungen eine wichtige Rolle, denn sonst kümmert sich kaum jemand um die ca. 5.500 Bewohner:innen.
Schüsse auf dem Mehringplatz
Die Friedrichstraße mündet in den Mehringplatz; in dessen Mitte steht eine Säule mit einem Engel, der über den Platz wacht. Drumherum ein kleiner Springbrunnen und Wiese. Es ist nichts mehr zu sehen von der über zehn Jahre anhaltenden Baustelle mitten auf dem Platz. Seit 2011 war der Mehringplatz als Sanierungsgebiet ausgewiesen. Das komplette Rondell wurde aufgebrochen, um einen Fahrstuhl zur U6 zu installieren, die Tunneldecke zu sanieren und den Platz neu zu gestalten - statt Pflastersteinen eine Wiese. Der Platz ist seit 2022 wiederhergestellt - aber nicht der soziale Frieden.
Erst letztes Jahr fielen tagsüber auf dem Mehringplatz Schüsse, wenige Monate davor gab es eine bewaffnete Massenschlägerei. Die Kinderarmut ist die höchste in dem Stadtgebiet. Die Situation im Kiez hat sich seit langem durch Leerstand, Drogenhandel, Gewalt und Verwahrlosung zu einem Brennpunkt erhitzt, hinzu kam die Dauerbaustelle.
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Die Mieten sind niedrig
Der Platz in der Mitte ist zwar neu aber die Verwahrlosung des Wohnblocks drumherum ist unverändert. In dem Ring an Geschäften, Essensbuden und Büros drumherum sieht man immer wieder Lücken und leere Schaufenster. Dabei sind die Mieten hier so günstig wie selten in Berlin. Die Zuständigkeit für die Wohn- und Gewerbekomplexe teilen sich seit 2011 Degewo und Howoge. Laut des amtlichen Mietspiegels liegt der niedrigere Preis für einen Quadratmeter am Mehringplatz bei knapp über 6 Euro. Ein Grund zum Bleiben, die meisten hier haben sowieso keine Wahl. Aber auch ein Grund, warum Geld für die Instandhaltung fehlt.
Fehlendes Geld ist auch das, was die Existenz der sozialen Initiativen in der Friedrichstraße 1-3 bedroht. Die Einrichtungen dort sollen gegen die Probleme im Kiez helfen. Doch sie sind ernsthaft bedroht, denn das Gebäude ist so marode, dass die Schließung droht. Die einzige Hoffnung ist Geld vom Senat. Neben einem Nachbarschaftszentrum sind dort unter anderem das Kinder-, Jugend- und Kulturzentrum KM Antenne, das Quartiersmanagement, das Stadtteilzentrum F1 mit Kantine und eine mehrsprachige Beratungsstelle für Familien mit Angehörigen mit Behinderung untergebracht.
Schimmelndes Haus bedroht Sozialeinrichtungen
Aber das Haus selbst trägt nicht mehr lange: Einige Räume sind nicht mehr begehbar wegen Wasserschäden, es gibt Schimmel, der Brandschutz muss dringend erneuert werden, die Decken fallen ab. Der Gesamtsanierungsbedarf liegt laut Bezirk bei rund 26 Millionen Euro. Die Lage ist so desaströs, dass viele Organisationen gezwungen wären auszuziehen und erst einmal einen neuen Standort finden müssten. Der Senat hat jedoch entschieden, die beschlossenen Baumaßnahmen von 2028 auf 2033 zu verschieben.
Wenn das Haus jedoch zwischenzeitlich samt ansässigen Trägern schließen müsste, würde sich das deutlich negativ auf die Situation am Mehringplatz auswirken. So schätzen es Anwohner:innen, aber auch Vertreter:innen der Initiativen selbst ein. Wegen der Schäden mussten bereits einige Räume gesperrt werden, das bedeutet weniger Angebote für die Nachbarschaft. Und die Folgen davon sind bereits sichtbar – so beschreibt es der Quartiersrat. "Es grassieren Jugend- und Drogenkriminalität, Vandalismus sowie gewalttätige Auseinandersetzungen. Kaum ein Tag vergeht mehr ohne Polizeieinsatz, bei den Anwohner:innen wächst die Angst" steht in einem Brandbrief, den der Quartiersrat Ende Juni an den Regierenden Bürgermeister von Berlin und an die Senatsverwaltung für Finanzen für Soziales und für Jugend schickte.
Instandsetzungen ab März 2025
"Wann wird Jugendarbeit ausfinanziert?" steht auf einem großen Plakat an dem Gebäude. Dass der Senat die Sanierung um fünf Jahre verschieben will, habe eine sehr große Schockreaktion bei vielen Vereinen, Initiativen und Trägern ausgelöst, sagt Candy Hartmann vom Quartiersmanagement. "So kann aber weder Nachbarschaftsarbeit noch Kinder- und Jugendarbeit vernünftig funktionieren."
Der Protestbrief führte zu einer ersten positiven Wendung. Am 18. September hat das Bezirksamt zugesagt, dass zumindest für aktuelle Instandsetzungen 1,74 Millionen Euro gesichert werden konnten, über das Sondervermögen "Infrastruktur der wachsenden Stadt". Ab März 2025 sollen die Arbeiten durchgeführt werden. "Dadurch ist der Weg bis zur Sanierung ein bisschen mehr geebnet", sagt Candy Hartmann. "Wäre dieses Geld nicht gekommen, hätte das Haus voraussichtlich schließen müssen - komplett." Candy Hartmann hofft auch auf weitere Baumaßnahmen: "Aktuell ist die Howoge sehr intensiv mit Sanierungsarbeiten in ihrem Bestand beschäftigt. Aber auch das ist ein gutes Zeichen, eine gute Weichenstellung für die Zukunft, hier tatsächlich auch wieder Gewerbe an den Platz zu bringen und ein gutes Wohnen zu ermöglichen. Aber all diese Dinge arbeiten in die richtige Richtung, dass sich etwas entwickeln kann und Strukturen aufgebaut werden", sagt Hartmann.
Karin Lücker-Aleman, Café-Inhaberin (Bild: rbb)
"Teilweise nicht mehr getraut, an Gruppen vorbeizugehen"
Auch wenn die bewilligte Summe nur ein kleiner Bruchteil ist, sichert es den Einrichtungen wie der Kinder-, Jugend- und Kulturzentrum KM Antenne vorerst das Überleben und kann mit seinen Aufenthaltsräumen und Freizeitangeboten ein Stück dazu beitragen, der Kriminalität und den Jugendbanden auf dem Mehringplatz entgegenzuwirken.
Und die sind laut Anwohnenden ein großes Problem. Viele der hier lebenden Familien wohnen laut dem Quartiersrat beengt, mit fünf bis neun Personen in Zweieinhalb- bis Drei-Zimmerwohnungen. Zahlreiche Kinder und Jugendliche im Gebiet verbringen daher ihren gesamten Alltag außerhalb der Wohnung: "Dann gammeln sie hier auf dem Platz rum und suchen sich ein neues Betätigungsfeld, wollen reich werden durch Drogenverkauf und nicht durch Arbeit", sagt die Betreiberin des Cafés "Madame", Karin Lücker-Aleman.
Lücker-Aleman ist fast jeden Tag im Café, kennt die Anwohnenden und Initiativen gut und engagiert sich selbst. Sie organisiert eine Lernwerkstatt und eine Sprachförderungs-Gruppe für die Nachbarschaft. Sie ist seit mehr als 15 Jahren am Platz aktiv in das Geschehen eingebunden. Trotzdem fühlt auch sie sich bedroht, wie sie sagt. "Vor zwei Monaten ungefähr wurden hier gegenüber [von der Polizei, Anm. d. Redaktion] viele Drogen gefunden, in Höhe von 17.000 Euro. Das war schon ziemlich anstrengend. Da haben wir Drohungen gekriegt, weil die Vermutung war, dass wir das alles verraten hätten. Da haben wir uns auch zum Teil nicht mehr getraut, an den Gruppen vorbeizugehen", erzählt Lücker-Aleman.
Der Platz muss sich um sich selbst kümmern
Bernd Barleben wohnt seit 25 Jahren mit seiner Frau am Mehringplatz und hat viele Krisen des Platzes miterlebt, wie er sagt: "Unsere Kinder haben damals gesagt, wie könnt ihr dort hinziehen?" Die Kriminalität ist ein dauerhaftes Thema. "Dass meine Frau Besuch verabschiedet vor Einbruch der Dunkelheit ist ganz normal. Am Alex, wo wir damals wohnten, da konnten sie Tag und Nacht gehen", sagt Barleben. Für den Fall der Fälle hat er sich aber schon etwas überlegt: "Ich bin seit einiger Zeit mit meinem Stock bewaffnet", sagt er und hebt seinen Gehstock. Ihm selbst und seiner Frau sei bislang nichts passiert.
Der Polizei Berlin liegen, laut eigener Aussage, keine Erkenntnisse über einen Kriminalitätsschwerpunkt im Bereich des Drogenhandels und -konsums auf dem Mehringplatz vor. Die häufigsten Delikte, die die Polizei Berlin verzeichnet hat, sind Körperverletzung, Betrug und erst an dritter Stelle Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz. Die Anwohnenden berichten jedoch, dass sie deutlich unter dem Drogenhandel leiden.
Nach den Drohungen wegen des Drogenfunds kam die Polizei, konnte aber nicht dauerhaft bleiben. Als Reaktion hat das Café mit Mieter:innen, Gewerbetreibenden und Anwohnenden zwei Versammlungen einberufen um die bedrohliche Situation zu thematisieren. Auch die Bezirksbürgermeisterin kam und vier weitere Stadträte. "Man hat uns dann anscheinend doch ernstgenommen. Da sind auch einige von den jungen Menschen auf diesen Versammlungen erschienen und danach hat sich die Situation etwas beruhigt", sagt Karin Lücker-Aleman.
Bernd Barleben, Anwohner (Bild: rbb)
Sollten kommunale Wohngesellschaften nicht sozial sein?
Eine Lösung, die aber nur kurzfristig hilft. Langfristig braucht es größere Investitionen in die Infrastruktur vor Ort. "Das ist auch ein bisschen die gescheiterte Bildungspolitik. Man hat zu wenig hingeguckt, dass die Schulen hier ordentlich ausgerüstet sind, um auch Kinder mitzunehmen, wo es schwieriger ist, sie in eine ganz normale Biografie reinzubringen", sagt Lücker-Aleman mit der Erfahrung aus ihrem Ehrenamt. Schon heute hat das Viertel die schlechtesten Ergebnisse von Einschulungsuntersuchungen im ganzen Bezirk, bestätigt der Quartiersrat.
Karin Lücker-Aleman erzählt von weiteren Problemen, vom einzigen Supermarkt, der letztes Jahr dichtgemacht hat und auch von fehlendem Engagement der städtischen Wohnungsbaugesellschaften. Kürzlich hat sie erfahren, dass dem Kiez-Hausmeister von den Wohngesellschaften aus Kostengründen zum Dezember gekündigt wurde, sagt sie.
Er kümmerte sich mehr als nur um die Häuser: "Er war hier als Projekt angesiedelt, er sorgt hier auch für Ordnung und Sauberkeit, dadurch, dass er jeden Tag präsent ist." Die Wohngesellschaften können den Hausmeister laut Lücker-Aleman nicht ersetzen. "Es ist die gleiche Reaktion, wie wenn wir hier irgendwelche Beschwerden haben, weil das Wasser durch die Decke kommt, oder die Abflüsse verstopft sind, oder die Haustür kaputt ist oder der Aufzug nicht geht. Das dauert ewig, bis die Gesellschaften reagieren und hier ihren wohnlichen Zustand herstellen", sagt sie. Die Café-Inhaberin hat deswegen bereits Protest gegen die Kündigung organisiert. Sie ist es schon gewohnt, dass der Mehringplatz auf sich allein gestellt ist.
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