Berlin Protestformen in Berlin: Die Empörten
Berlin ist Protesthauptstadt: Rund 7.500 angemeldete Demonstrationen gab es laut Polizei in diesem Jahr. So viele waren es lang nicht mehr. Im Kampf um die Aufmerksamkeit müssen sich Protestformen immer wieder neu erfinden. Von Birgit Raddatz
"She works hard for the money" schallt es aus dem Lautsprecher vor dem Abgeordnetenhaus Anfang Dezember. Donna Summers Hit aus dem Jahr 1983 scheint hier vielen aus der Seele zu sprechen. Unter dem Motto "Unkürzbar" wehren sich die unterschiedlichsten Organisationen, freien Träger und Gewerkschaften seit Wochen gegen die Kürzungspläne des Berliner Senats. Unterstützt werden sie an diesem Tag von fast 2.000 streikenden Lehrkräften und Erzieher:innen. Ein Meer aus roten Warnwesten, Trillerpfeifen und Musik erschafft ein Gefühl von Gemeinschaft und Solidarität. Am Ende werden mehr als 5.000 Menschen hier demonstrieren.
Zwei Wochen später stehen rund 500 Menschen vor dem Roten Rathaus. Hier gibt es Punsch, Reden und wieder Musik. Akteure der Kulturszene kämpfen gegen die angekündigten, massiven Kürzungen. Die ganz unterschiedlichen Protestierenden setzen auf die politische Opposition aus Linken und Grünen - und auf die Gewerkschaften. Den Verdi-Sprecher Kalle Kunkel freut das Vertrauen in die Protestinstitution, wie er sagt. Aber: "Es gibt da manchmal etwas auseinandergehende Vorstellungen, mit welchen Ressourcen wir als Gewerkschaft ausgestattet sind und es ist nicht immer leicht, alles unter einen Hut zu bringen", sagt Kunkel. Sprich: Weil viel demonstriert wird, weckt das auch Erwartungen. Trotzdem würden viele Beschäftigte merken, "dass man nur stark ist, wenn man sich zusammentut", sagt der Verdi-Sprecher.
Knapp 21 Demos - pro Tag
Einen ersten, kleinen Erfolg können die demonstrierenden Gegner der Kürzungen für sich verbuchen. Bei der sogenannten Tarifvorsorge bei den freien Trägern sichert der Senat "Planungssicherheit" zu. Auch bei der Verkehrssicherheit und den Radwegen soll es zu weniger drastischen Einsparungen kommen als zuerst geplant. Trotzdem wird die "Unkürzbar"-Bewegung am kommenden Sonntag erneut im Berliner Lustgarten demonstrieren. Denn kleinere Projekte wie zum Beispiel das Gefängnistheater "aufBruch" stehen vor dem Aus - nach wie vor.
Massenmobilisierungen gab es in diesem Jahr mehrfach. Mindestens 7.500 angemeldete Demonstrationen meldet die Berliner Polizei.- mehr als 20 pro Tag. Angefangen von den sogenannten Bauernprotesten und dazugehörigen Straßenblockaden, gefolgt von Protesten gegen die AfD, ausgelöst von Correctiv-Recherchen zum "Geheimtreffen" von AfD-Vertretern und Rechtsextremen in Potsdam. Zwischenzeitlich hatten sie in Berlin mindestens 100.000, zuletzt noch ein paar Hunderte auf die Straße gebracht. Trotzdem geht es bei vielen Demonstrationen weiterhin auch um den Kampf gegen Rechts – derzeit zum Beispiel mobilisieren verschiedene Gruppierungen gegen einen geplanten Aufmarsch Rechtsradikaler in Berlin-Friedrichshain am kommenden Samstag.
Zudem hätten regelmäßige Demonstrationen im Zusammenhang mit dem Nahost-Krieg viele Menschen in Berlin mobilisiert, ergänzt der Polizeisprecher Florian Nath. Eine weitere größere Demo lief am 3. Oktober: Hier ging es um den Protest gegen weitere Waffenlieferungen an die Ukraine.
Besonders bei den pro-palästinensischen und den israelfeindlichen Demos griff die Polizei häufiger ein, weil es dort regelmäßig zu Ausschreitungen kam. Hier protestiert eine Gegendemonstrantin gegen Verbrechen der Hamas.
Klimabewegung sucht neue Allianzen
Wie sich ein Massenprotest entwickle, das hänge von verschiedenen Faktoren ab und sei dynamisch, sagt Vincent August vom Lehrstuhl für Allgemeine und Kultursoziologie an der Berliner Humboldt-Universität. Er forscht zusammen mit André Brodocz, Professor an der Universität Erfurt, zu den Klimabewegungen "Fridays for Future" und "Letzte Generation". Erstere begannen mit bis dahin unüblichen Schulstreiks, brachten schließlich viele Tausende auf die Straße und suchten nun neue Allianzen etwa mit den Gewerkschaften oder den Kirchen, so August. Auch im Zuge von Demonstrationen wie zum Beispiel "A100 Wegbassen" treten die Klimaaktivisten auf.
"Schon vor Corona konnte man ein gewisses Burnout der Aktivist:innen beobachten, zum anderen hat das Individuum so Dinge zu tun wie Arbeit, Freizeit oder Elternabende", sagt August. Gesellschaftliche Ablenkung nennt der Forscher das. Man müsse sich immer wieder aktiv entscheiden, auf eine Demonstration zu gehen, so August. Zuletzt taten dies etwa 700 Menschen, um gegen den LNG-Gas-Gipfel in Berlin auf kreative Weise zu protestieren. "Das ist für uns zufriedenstellend, wir waren ein unfassbar breites Bündnis und haben es geschafft, alle für eine Forderung auf die Straße zu bringen", sagt Frieda Egeling, Sprecherin für die Berliner Gruppe. 40 Gruppen hatten zu dem Protest aufgerufen und setzten auf Symbolik und Kunst. Nur dabei blieb es allerdings nicht.
Proteste zeigen Erschöpfungstendenzen
Am Morgen hatte die "Letzte Generation" mit einer für sie typischen Aktion Aufmerksamkeit erregt. Die Polizei nahm über 200 Menschen vorübergehend fest und stellte über 100 Anzeigen. Die Gruppierung sei homogener zusammengesetzt, so der Soziologe Vincent August, und erfordere deshalb innerhalb der Bewegung ein höheres individuelles Engagement. Gezielte konfrontative Taktiken sind der Markenkern. Diese Protestformen seien jedoch lange nicht so radikal, wie es manch einer darstellen wolle, sagt der Leiter der Forschungsgruppe "Ökologische Konflikte". "Entführungen und Brandanschläge etwa haben wir in der Vergangenheit von ganz anderen Gruppen gesehen", sagt der Forscher.
Der "Letzten Generation" sei es für einen gewissen Zeitraum gelungen, das Thema Klima immer wieder in den Diskurs einzubringen. Die politischen Folgen blieben jedoch aus. Nun führten Tausende Gerichtsverfahren gegen Aktivist:innen dazu, dass die Gesellschaft das Interesse verlöre. August bescheinigt sowohl den heterogenen Massenprotesten als auch homogenen Einzelaktionen deshalb gewisse Erschöpfungstendenzen.
"Im Grunde braucht es innerhalb der Bewegung immer wieder neue Protestformen, damit man neue Aufmerksamkeit weckt", sagt August. Als Beispiel nennt er Aktionen, die radikaler, aber weniger gewalttätig seien, wie die des "Zentrums für Politische Schönheit", die stark auf Inszenierungen setzen, oder die Kampagne der Hungerstreiks, die die dadurch die Gewalt gegen den eigenen Körper richten.
Immer mit dem Ziel, andere von der Wichtig- und Richtigkeit der eigenen Ziele zu überzeugen.
Sendung: rbb24 Inforadio, 14.12.2024, 07:30 Uhr