Hessen Aktion "eXit": Wieso immer mehr X-Nutzer ihren Account löschen
Wissenschaftler, Politiker, Medienschaffende und Institutionen kehren dem Kurznachrichtendienst X zunehmend den Rücken. Sie beklagen die aktive Förderung von Rechtsextremismus und Verschwörungstheorien durch Betreiber Elon Musk – und halten die Plattform für verloren.
Fast zehn Jahre lang war Maximilian Pichl auf Twitter - heute X - aktiv. Der Rechtswissenschaftler mit Schwerpunkt Asyl- und Migrationsrecht nutzte den Kurznachrichtendienst zur Information und Vernetzung.
"Dort konnte man Leute treffen, denen man in seinem Alltag nicht begegnet ist", sagt Pichl. "Ich wollte auch zur politischen Bildung beitragen und Fakten in die damals schon populistisch geführte Migrationsdebatte bringen."
Jetzt sieht er dafür keinen Raum mehr. Der Dozent an der Hochschule Rhein-Main ist einer von mehr als 60 deutschen Wissenschaftlern, Medienschaffenden und Intellektuellen, die ihr X-Konto in dieser Woche abgeschaltet haben.
Prominente Nutzer beklagen Veränderung
Sie alle haben einen Offenen (Abschieds-)Brief unterzeichnet, darunter zum Beispiel Journalistin Dunja Hayali und der Chefredakteur des Internetportals "FragDenStaat", Arne Semsrott.
Initiiert wurde der unter dem Hashtag "eXit" verbreitete Brief von den Autoren Jan Skudlarek und Max Czollek. Darin erklären sie, Twitter sei lange Zeit "ein sehr guter Ort" gewesen, an dem sich Wissenschaftlerinnen, Politiker und Journalistinnen vernetzen, Erkenntnisse teilen und "nebenbei ziemlich viel Spaß haben konnten".
Mittlerweile sei daraus eine "Brutstätte von Rechtsextremismus, Wissenschaftsleugnung, Hass und Verschwörungserzählungen" geworden, die vom Betreiber der Plattform - Tesla-Gründer Elon Musk - nicht nur geduldet, sondern aktiv gefördert und propagiert werde.
"Debatten waren faktenorientiert"
Pichl folgten auf der Plattform zuletzt rund 14.000 Nutzerinnen und Nutzer. Diskussionen habe es im Verlauf der Zeit immer wieder gegeben, sagt er.
Die seien "durchaus mal mit härteren Bandagen als im echten Leben" geführt worden und nicht immer ohne Beleidigungen ausgekommen. "Aber sie waren faktenorientiert."
Shitstorms greifen ins Private über
Im Herbst 2023 verändert sich das laut dem Rechtswissenschaftler zunehmend. Immer öfter seien seine Beiträge von Chatbots und anonymen Profilen überflutet worden, immer öfter habe er sich Shitstorms und "Kommentaren mit Zerstörungswillen" ausgesetzt gesehen.
Das habe sogar auf sein Privatleben übergegriffen: An seine Büroadresse seien Briefe geschickt worden von Menschen, die mit seinen Tweets nicht einverstanden gewesen seien. "Das war keine Bedrohungslage, wie das andere erleben", sagt er. Gut angefühlt habe es sich aber nicht.
Verschärfung nach Musk-Übernahme
Herbst 2023 - das ist der Zeitpunkt, an dem Elon Musk die Plattform von Twitter zu X umbenennt. Gut ein Jahr ist er da schon Eigentümer des Kurznachrichtendienstes.
Der neue Name ist nicht die einzige Änderung, die der US-amerikanische Tech-Milliardär vornimmt: Moderation und Faktenchecks werden zunehmend eingeschränkt, Beiträge mit weiterführenden Links und Quellenangaben sind weniger sichtbar.
Der Algorithmus scheint zudem unter anderem extremistische Inhalte und Verschwörungstheorien bevorzugt auszuspielen - und die Botschaften, die Musk selbst verbreiten will.
"Immer, wenn man sich eingeloggt hat, hat man zuerst mal zwei, drei Posts von Elon Musk gesehen", sagt Pichl. Der Tesla-Gründer habe die Plattform wie sein Privateigentum genutzt, sei wie ein Feudalherrscher aufgetreten.
"Dem kann man sich als Privatperson nicht stellen"
Pichl entschließt sich damals, sein Konto zunächst stillzulegen. Er setzt keine neuen Posts mehr ab und liest nur noch mit. "Es ist weiterhin eine internationale Plattform, auf der man sich zum Beispiel über die Lage in Israel und Gaza oder aktuell Georgien informieren kann", begründet er seine Entscheidung.
Es sei aber immer schwerer geworden, Information von Desinformation zu unterscheiden. "Mittlerweile ist Twitter besetzt von Rassisten, Rechtspopulisten und Faschisten", sagt Pichl. Er findet: Dem könne man sich als Privatperson nicht stellen.
Seit 2022 vermehrt Austritte
Seit der Musk-Übernahme 2022 kehren weltweit immer mehr Institutionen, Medienschaffende, Politiker und Vereine dem Kurznachrichtendienst den Rücken.
Als erste hessische Stadt hatte sich im vergangenen Jahr die Stadt Hanau von X verabschiedet. Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) fand damals deutliche Worte: Die Plattform sei "längst kein soziales" Netzwerk mehr.
Andere zögerten dagegen noch: Die hessische Staatskanzlei und Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) etwa sind bis heute auf X aktiv, genauso wie das Landeskriminalamt, das in Wiesbaden angesiedelte Bundeskriminalamt sowie die sieben hessischen Polizeipräsidien.
Neue Abschiedswelle nach US-Wahl
Seit der Präsidentschaftswahl in den USA Anfang November hat die Austrittswelle noch einmal eine neue Dynamik angenommen. Zuletzt hatten etwa die britische Zeitung The Guardian, die Antidiskriminierungsstelle des Bundes, die Bildungsstätte Anne Frank und der hessische Landessportbund die Abkehr von X erklärt.
Bijan Kaffenberger, digitalpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im hessischen Landtag, sieht das in der Rolle Musks im Wahlkampf und der Administration des designierten US-Präsidenten Donald Trump begründet.
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Es sei zu erwarten, dass der Unternehmer seine neue Rolle dazu nutzen werde, deutsche und EU-Gesetze wie etwa den "Digital Services Act" zum Entfernen illegaler Inhalte im Netz umgehen werde, so Kaffenberger.
Profit vs. Regularien
Für den Darmstädter ist damit eingetreten, was er bereits vor zwei Jahren befürchtet hat - und was ihn dazu veranlasst hat, dem damaligen Twitter Ende 2022 den Rücken zu kehren.
"Seit der Übernahme durch Musk war ich in Alarmstellung", sagt Kaffenberger. Mit der Kündigung von Moderationsteams habe er gezeigt, dass es ihm nicht um Meinungsfreiheit und bestehende Regularien gehe, sondern um Profit und Gewinnmaximierung.
Mittlerweile glaubt er sogar: Der Diskurs auf X ist nicht mehr zurückzuerobern. Es sei dort nicht mehr möglich, diejenigen zu erreichen, die "noch kein vorgefestigtes, insbesondere rechtes Weltbild" haben. "Aufgrund der Begrenzung der Zeichen und der Algorithmen, die das gar nicht zum Ziel haben", so der Digitalexperte.
Unterschiede zwischen Plattformen
Die Plattform jenen zu überlassen, die sie für die Verbreitung von Fake News und extremen Ansichten nutzen, mache es nicht schlimmer, findet Kaffenberger.
Er sei dankbar um alle, die "weiter versuchen, in diesem Raum die Debatten zugunsten der Demokratie, des Rechtsstaats und der Würde des Menschen führen". Er selbst habe aber die Hoffnung verloren, dass dieser Kampf zu gewinnen sei.
Kaffenberger selbst setzt lieber auf Facebook und Instagram. Dort gebe es zwar auch Probleme, gibt er zu und nennt etwa die zuletzt verringerte Sichtbarkeit politischer Inhalte auf Instagram. Verschiedene Zielgruppen würden dort seiner Meinung nach aber nicht so stark voneinander getrennt wie auf X.
Und gerade auf Facebook tummele sich eine ältere Zielgruppe als anderswo. "Ihnen im digitalen Raum keine Option zum Kommunizieren zu geben, wäre fatal."
Diskussionen lieber im echten Leben
Für noch wichtiger hält Kaffenberger aber Debatten im echten Leben. "Da kann man Vertrauen schaffen", sagt er. "Man kann über soziale Netzwerke und digitale Kommunikation niemals Zwischenmenschliches ersetzen."
Auch Dozent Maximilian Pichl will seine Zeit lieber in "echte" Diskussionen stecken. "Social Media ist ein Ort des Meinungskampfes geworden. Man kann im Kleinen ganz andere Gespräche führen", meint er. "Ich will meine Zeit nicht mehr in Shitstorms investieren."
Zeichen für Unentschlossene setzen
Als Unterzeichner des Offenen "eXit"-Briefes wolle er sich nicht als Held darstellen, sondern ein Zeichen setzen für all jene, die selbst noch unentschlossen sind, ob sie den Kurznachrichtendienst verlassen sollen oder nicht. "Es ist der Versuch, ein Signal zu setzen", sagt Pichl. "Mir ging es ja auch lange so."
Der Rechtswissenschaftler ist sicher: Er wird nicht zurückkehren. "Ich will nur noch meine Timeline sichern", erklärt er. "Die ist ein Stück Geschichte: Das sind zehn Jahre Auseinandersetzung mit Asylpolitik."