
Begabtenförderung: Macht SH genug für hochbegabte Kinder?
Etwa jedes zehnte Kind gilt als besonders begabt. Doch ohne gezielte Förderung kann eine Hochbegabung schnell zu Problemen führen. Wie gelingt es dem Land, Talente früh zu erkennen und zu fördern?
Da war zum Beispiel der Vater einer Dreijährigen, der von einer Situation im Parkhaus erzählte. Seine Tochter wollte gerne mit dem Aufzug fahren, er jedoch nicht. Also griff der Vater zu einer Notlüge: "Der ist kaputt." Die beiden nahmen die Treppe und als sie später zurückkamen, bemerkte die Tochter, dass sich die Zahl in der Etagen-Anzeige des Aufzugs verändert hatte: "Der funktioniert."
Oder das Kind, das sich schon früh für Umwelt und Natur und die darin lebenden Tiere interessierte und irgendwann begann, sich zurückzuziehen, traurig zu sein. "Es hatte vom Artensterben gehört und die Gefahr erfasst, aber noch keinen Mechanismus, damit gut umzugehen", erzählt Sabine Küster. "Es sah keine Möglichkeit, selbst aktiv zu werden oder sich zu beruhigen, und sei es durch Verdrängen."
"Hochbegabung" ist zunächst einmal ein in der Wissenschaft festgeschriebener Begriff, der vor allem über die Höhe des Intelligenzquotienten (IQ) definiert wird: Ab einem IQ von 130 gilt man als "hochbegabt". Viele sehen diese Festsetzung kritisch, weil der Wert letztlich willkürlich festgelegt worden ist und die dafür notwendigen Tests zum Beispiel Kinder, die sprachlich weniger begabt sind (oder noch nicht so lange im Land sind), tendenziell benachteiligen können. Experten verweisen zudem darauf, dass Kinder mit einem IQ von 115 vor den gleichen Herausforderungen stehen können wie Kinder mit einem IQ von 135. Auch deshalb spielt es im Alltag in Schleswig-Holstein kaum eine Rolle, ob ein Kind offiziell das Siegel "hochgebabt" trägt oder nicht - kein Förderangebot des Landes oder der Deutschen Gesellschaft für das hochbegabte Kind macht dies zur Bedingung.
Sabine Küster ist psychologische Beraterin und Leiterin der "Beratungsstelle Begabung" an der Universität Flensburg. Wenn sie erzählt, wer ihr Angebot in Anspruch nimmt, dann nennt sie bewusst auch solche Beispiele. "Kinder, die etwa räumlich-visuell begabt sind, profitieren genauso von einer Förderung, fallen aber womöglich weniger auf als Kinder, die beispielsweise sehr früh sehr gut sprechen können", sagt sie. Und manchmal gäben kleine Geschichten wie die aus dem Parkhaus entscheidende Hinweise.
Warum frühe Begabtenförderung entscheidend ist
Die Beratungsstelle gibt es seit 2018 und im vergangenen Jahr berieten die Mitarbeitenden dort in rund 250 Fällen - Tendenz steigend. "Wir merken, dass Eltern, aber auch Erzieher und Lehrer sensibler geworden sind, was das Thema Begabung angeht, und sich eher trauen, auf uns zuzukommen", sagt Küster. Je früher besondere Begabungen erkannt werden, desto besser sei es. Denn häufig entstünden durch sie auch besondere Bedürfnisse - und manchmal Probleme.
So wie bei dem umweltbegeisterten Kind oder Schülerinnen und Schülern, die im Unterricht unterfordert sind. "Manche von ihnen klinken sich aus, werden zu Klassenclowns oder leiden irgendwann sogar unter psychosomatischen Beschwerden, also Bauchweh oder Kopfschmerzen zum Beispiel", erklärt Sabine Küster. Manchmal werden dann auch Fehldiagnosen gestellt - ADHS zum Beispiel oder Autismus.
Die Regel sind Probleme übrigens nicht: Vielfach arrangieren sich Kinder auch mit ihrer Situation, mit der Gefahr, dass bei einigen von ihnen die Begabung verkümmert wie ein nicht genutzter Muskel. Viele bleiben dann allerdings etwa in der Schule auch weit hinter ihren eigentlichen Möglichkeiten zurück - das Phänomen des sogenannten "Underachievements" ist gut erforscht. "Das kann für sie, aber auch für die Gesellschaft ein Verlust sein", sagt Sabine Küster.
Besonders begabt = besonders problematisch?
"Die Vorstellung oder das Vorurteil, Kinder mit großer Begabung seien häufig problematisch, hängt auch damit zusammen, dass man sich oft erst mit ihnen beschäftigt, wenn sie Probleme haben", sagt Silke Thon, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für das hochbegabte Kind und Vorsitzende des Landesverbandes Schleswig-Holstein.
Silke Thon verweist darauf, dass es nicht nur bei hohen intellektuellen Begabungen negative Folgen haben kann, wenn sie nicht ausreichend gefördert werden. Gleiches gelte auch für musikalische oder sportliche Begabungen. "Allerdings gehen wir mit diesen gesellschaftlich anders um als mit intellektuellen Begabungen", sagt sie. "Es ist zum Beispiel vollkommen akzeptiert, dass Sport- und Musiktalente viel Zeit mit Üben verbringen - aber wenn man Mathe oder Sprachen gut kann?"
Fördert das Land Begabungen genug?
Außerdem gebe es große Unterschiede im Vorhandensein von und im Wissen um Förderstrukturen: "Ein Kind, das sportlich begabt ist, wird selbstverständlich in den Sportverein geschickt, wo es zum Beispiel vom Kinder- zum Leistungsturnen wechseln kann und so weiter." Oder musikalisch begabte Kinder an Musikschulen verwiesen, wobei die musikalische Förderung, so Thon, leider häufig auch vom Geld der Familie abhänge.
Dreh- und Angelpunkt der Begabtenförderung müssen für Silke Thon Kitas und Schulen sein, wo man alle Kinder "erwische", ganz unabhängig etwa vom Einkommen oder der Nationalität der Familie. Doch macht das Land hier genug?
Auf Anfrage verweist das Bildungsministerium auf die Antwort auf eine Kleine Anfrage der SPD zum Thema Hochbegabung Ende vergangenen Jahres. Darin heißt es, dass statistisch betrachtet in Schleswig-Holstein rund 6.000 Schüler und Schülerinnen hoch- und weitere circa 42.000 überdurchschnittlich begabt sind. Es ist also keine kleine Gruppe, um die es geht - durchschnittlich sitzen in jeder Klasse demnach zwei bis drei besonders Begabte.
Mit diesen Kindern zu arbeiten, lernen angehende Lehrer und Lehrerinnen laut Ministerium insofern, als dass der Umgang mit "besonderen Lernvorraussetzungen" grundsätzlich Teil der Ausbildung ist. Später sei Hochbegabung etwa Thema in der Fortbildung von Lehrern. Auch in der Erzieher-Ausbildung sei es verankert. Zudem nennt das Ministerium eine ganze Reihe verschiedener Elemente der Begabtenförderung - schulische wie außerschulische.
Warum Begabtenförderung oft vom Zufall abhängt
"Tatsächlich haben sich in den vergangenen Jahren viele Angebote entwickelt, Schleswig-Holstein ist da in einigen Bereichen vorn", sagt Silke Thon. Das Problem: Das Thema Begabtenförderung sei nicht flächendeckend an Schulen und Kitas angekommen, häufig hänge es auch an einzelnen Personen. "Am Ende ist es ein bisschen Glück, ob man an einer Schule oder in einer Kita ist, die einem Angebote macht und die auch an Programme vermittelt", so Thon. Das liege auch daran, dass diejenigen, die sich darum kümmern sollen, dafür keine oder nicht genügend Zeit angerechnet würde.
Auch der Landesrechnungshof kritisierte vergangenes Jahr, Angebote der Begabtenförderung stünden nur punktuell zur Verfügung. Zudem fehle eine zeitgemäße und abgestimmte Struktur und es sei festzuhalten, dass Projekte immer nur eine geringe Zahl von Schulen erreichten. Die Kritik bezog sich damals auf den Landeshaushalt 2022 - in dem Jahr betrugen die Gesamtausgaben für die Begabtenförderung rund 3,7 Millionen Euro. Davon gingen laut Landesrechnungshof rund 65 Prozent allein in die Springerförderung an Gymnasien.
Fördern statt überfordern: Verantwortung liegt auch bei der Familie
Je weniger sich Schulen und Kitas in der Förderung begabter Kinder engagieren, desto wichtiger wird die Familie. Laut Sabine Küster haben Eltern in aller Regel auch ein gutes Gespür dafür, Begabungen und Bedürfnisse zu erkennen. "Ziel ist, dass die Kinder gut ausgelastet und zufrieden mit ihrer Situation sind - und das merken Eltern." Oft gehe es darum, die Kinder mit Informationen zu Themen zu versorgen, die sie interessieren.
Das Kind individuell zu fördern, sei nicht zwingend teuer oder sehr zeitaufwendig, so Küster. Wobei bei einer Sache dann aber meist doch viel Einsatz der Eltern gefragt sei: "Die Kinder an Angeboten teilnehmen zu lassen, für die sie eigentlich noch zu jung sind. Dafür müssen sich Eltern oft stärker einsetzen." Nur eines sei dann auch ganz wichtig, so Sabine Küster: "Die Kinder nicht mit Angeboten zu überfrachten." Hier einen guten Mittelweg zu finden - dabei könne auch eine Beratung helfen.