
Ermittlungen gegen İmamoğlu Heftige Proteste vor Entscheidung zu U-Haft
In Istanbul gehen die Proteste gegen die Festnahme von Bürgermeister İmamoğlu weiter - trotz einer angekündigten Verschärfung der Versammlungsverbote. Dem Erdogan-Konkurrenten droht U-Haft. Er bestreitet alle Vorwürfe.
Innerhalb der kommenden Stunden soll ein Gericht in Istanbul entscheiden, ob der am Mittwoch festgenommene Bürgermeister der türkischen Metropole, Ekrem İmamoğlu, in Untersuchungshaft kommt. Bis zum Abend hatten sich vor dem Rathaus der Stadt erneut zahlreiche Menschen zum Protest gegen die Festnahme des CHP-Politikers und gegen die türkische Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdogan versammelt.
ARD-Korrespondentin Katharina Willinger berichtete von "mehreren Zehntausend" Demonstrierenden, die vor dem Rathaus zusammengekommen seien. Es sei sehr viel Wut zu spüren, immer wieder werde auch der Rücktritt von Erdogan gefordert. Einige der Demonstrierenden würden Böller werfen, die Polizei setze wiederum Tränengas gegen die Menschenmenge ein.
Versammlungsverbot verlängert, weitere Einschränkungen
Am Mittwochmorgen waren İmamoğlu und mehr als hundert weitere Menschen festgenommen worden, darunter Mitarbeiter, Abgeordnete und Mitglieder der CHP. Seitdem kommt es landesweit zu Protesten - trotz Demonstrations- und Versammlungsverboten, die in mehreren türkischen Städten und Provinzen verhängt wurden.
In Istanbul wurden die Maßnahmen nochmals verschärft und verlängert. Wie das Istanbuler Gouverneursamt mitteilte, sollen ab Sonntag Zugangsbeschränkungen zur Stadt gelten. Personen, die mutmaßlich an Demonstrationen teilnehmen wollen, sollen demnach nicht mehr in die Stadt gelassen werden. Wie das umgesetzt werden soll, war zunächst unklar.
Neben den Versammlungsverboten sollen auch das Aufhängen von Plakaten, Austeilen von Flyern sowie Unterschriftensammlungen oder Gedenkveranstaltungen untersagt werden. Sämtliche Einschränkungen sollen in Istanbul bis vorerst Mittwoch um Mitternacht gelten.
Willinger sprach sogar davon, dass Menschen, "die aus Sicht der Behörden eine Gefahr darstellen", nicht einmal mehr die Stadtviertel wechseln dürften. "Wir sind sehr nahe an einem Ausnahmezustand", so die Einschätzung der ARD-Korrespondentin.
Medienaufsicht droht Sendern mit Strafen
Die türkische Medienaufsicht droht den Medien im Land im Falle von "unwahrer Berichterstattung" mit Strafen und Lizenzentzug. "Wir fordern die Medien erneut auf, sich nicht auf parteiische und unwahre Berichterstattung zu stützen, sondern ausschließlich offizielle Informationen und Erklärungen der zuständigen Behörden zu veröffentlichen" schrieb der Chef der Anstalt, Ebubekir Sahin, auf der Plattform X.
Andernfalls würden Maßnahmen ergriffen, die "bis hin zu langfristigen Sendeverboten und letztendlich sogar zum Lizenzentzug reichen". Er spreche "eine letzte Mahnung" aus.
Berichten zufolge stellten daraufhin einige Sender ihre Live-Berichterstattung von Demonstrationen im Land ein. Ilhan Tasci, Mitglied in der Medienaufsicht für die Opposition, kritisierte den Aufruf scharf und schrieb auf der Plattform X, Sahin habe die Pressefreiheit im Land außer Kraft gesetzt.
İmamoğlu bestreitet sämtliche Vorwürfe
İmamoğlu wird die "Unterstützung einer terroristischen Organisation" vorgeworfen, angeblich wegen Verbindungen zu der in der Türkei verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Zudem wird ihm Korruption zur Last gelegt. Am Samstag war der als scharfer Kritiker Erdogans bekannte Politiker polizeilich verhört worden. Rund fünf Stunden lang habe er der Polizei Rede und Antwort gestanden, berichtete die türkische Zeitung "Cumhuriyet".
Der Bürgermeister wies sämtliche gegen ihn vorgebrachten Anschuldigungen zurück. Die "unmoralischen und unbegründeten Vorwürfe" zielten darauf ab, sein "Ansehen" und seine "Glaubwürdigkeit" zu untergraben, wurde er in einer Erklärung des Istanbuler Rathauses zitiert. Doch das Vorgehen gegen ihn habe nicht nur das internationale Ansehen der Türkei beschädigt, sondern auch das Gerechtigkeitsgefühl der türkischen Öffentlichkeit und das Vertrauen in die Wirtschaft.
Bereits vor Veröffentlichung der Erklärung hatte İmamoğlu über seine Anwälte auf dem Kurznachrichtendienst X die Ermittlungen gegen ihn als "politischen Putsch verurteilt. "Ich rufe mein Volk auf: Mit eurer Unterstützung werden wir zuerst diesen Putsch vereiteln, und dann werden wir diejenigen fortschicken, die uns dies erleben ließen", appellierte er an die Bevölkerung.
Entscheidung erst in frühen Morgenstunden?
Die Istanbuler Staatsanwaltschaft forderte Untersuchungshaft für den festgenommenem Bürgermeister und Erdogan-Rivalen Ekrem Imamoglu. Das berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu. Imamoglu soll nun einem Richter vorgeführt werden.
Wann genau der Richter entscheidet, ob İmamoğlu in Untersuchungshaft kommt, ist unklar. Neben dem CHP-Politiker wurden fast 90 weitere Beschuldigte in den Justizpalast in Istanbul gebracht, wie ARD-Korrespondentin Willinger berichtet. Alle Beschuldigten würden nacheinander vor einen Haftrichter gebracht. Es könne sich also bis in die Morgenstunden am Sonntag hinziehen, bis auch zu İmamoğlu eine Entscheidung gefällt werde. Der Platz rund um den Justizpalast sei vorsorglich bis 8 Uhr morgens abgesperrt worden. "Doch viele glauben, die Entscheidung ist längst gefallen, sie wird nur noch verkündet", so Willinger.
Trotz der Vorwürfe gegen İmamoğlu und trotz dessen drohender Inhaftierung will ihn die CHP am Sonntag zu ihrem Kandidaten für die türkische Präsidentschaftswahl 2028 küren. Der Istanbuler Bürgermeister gilt als aussichtsreicher Konkurrent Erdogans. Offizieller Kandidat ist İmamoğlu aber erst, wenn die als regierungsfreundlich geltende türkische Wahlbehörde YSK seine Kandidatur bestätigt. Sollten die Terrorermittlungen, wegen derer er unter anderem festgenommen wurde, bis dahin nicht aufgegeben worden sein, ist die Annahme seiner Kandidatur unwahrscheinlich.
Zudem wurde Imamoglu in dieser Woche der Universitätsabschluss aberkannt. Die Entscheidung ist noch nicht endgültig. Ein Abschluss ist Voraussetzung für eine Präsidentschaftskandidatur in der Türkei.