Arbeiter arbeiten auf dem Gelände der türkischen Wohnungsbaugesellschaft (TOKI) in Antakya.

Erdbeben in der Türkei 2023 Zwischen Trümmern und Wiederaufbau

Stand: 06.02.2025 13:46 Uhr

Vor zwei Jahren erschütterte ein schweres Erdbeben die Türkei und Teile Syriens. Zehntausende Menschen starben. Die Nachwirkungen sind bis heute zu spüren. Doch mit dem Wiederaufbau wächst auch Hoffnung.

Von Von Uwe Lueb und Mehmet Uksul, ARD Istanbul

Kinder spielen zwischen Containern. In der Wahrnehmung der Jüngeren fand das Leben schon immer in einem Containerdorf des staatlichen Katastrophenschutzes Afad statt, hier außerhalb der türkischen Stadt Antakya.

Immerhin staubt es nicht ganz so stark wie woanders. An einigen Stellen werden noch immer Trümmer beseitigt, vielerorts wird neu gebaut. Dazu kommt der Rauch offenbar wilder Müllverbrennung. Die Luft ist dick, staubig, beißend. Und giftig, sagt der Arzt Ali Kanatli. Er meint den Baustoff Silika, der Beton fester machen soll. Der Silikastaub, sagt Kanatli, dringt in die Lunge ein und kann Krebs hervorrufen.

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Bernd Niebrügge, ARD Istanbul, Mittagsmagazin, 06.02.2025 12:10 Uhr

Mehr Bindehautentzündungen und Lungenkrankheiten

Nach einer aktuellen Messung sind die Silikawerte in der Luft sechs bis sieben Mal höher als der zulässige Höchstwert der Weltgesundheitsorganisation, so Kanatli. Es gebe mehr Bindehautentzündungen als normal. Und, schlimmer noch, viel mehr Lungenkrankheiten und Fälle allergischen Asthmas, die im Krankenhaus behandelt werden müssten.  

Aber selbst wenn die Menschen ins Krankenhaus gehen: Es gibt zu wenig Betten und keine Intensivstation. Dabei werden die Betten auch für andere Kranke dringend gebraucht. Fälle von Bluthochdruck nehmen laut Kanatli zu, ebenso Herzinfarkte. "Junge Herzinfarkte", nennt Kanatli sie, auch bei 40- und 50-Jährigen. Selbst normale grippale Infekte seien ernst zu nehmende Erkrankungen geworden. Statt ein bis zwei Wochen hielten die Infekte mehr als doppelt so lange an. Aber wie soll man sich auch erholen, wenn eine ganze Familie auf 20 Quadratmetern im Container lebt, fragt Kanatli - und erwartet keine Antwort. 

Neben der gesundheitlichen auch die psychische Belastung

Wir sitzen im Büro von Ayhan Kara, Mitglied der größten türkischen Oppositionspartei CHP. Er ist kein Psychologe, aber als mittelständischer Arbeitgeber nah dran an seinen Leuten. Er kriegt mit, was bei ihnen los ist.

Die psychologische Situation der Menschen werde immer schlimmer, sagt Kara: "Schauen Sie sich an, wie viele Menschen psychologisch unterstützt werden. Sehen Sie sich den Zustand der Menschen an, die Psychopharmaka nehmen. Schauen Sie auf die Straßen, den Verkehr: Die Menschen sind gereizt, kurz davor, sich gegenseitig anzugreifen." 

Als angespannt nimmt auch Refik Karacayli von der Hilfsorganisation Hayata Destek ("Hilfe zum Leben") die Lage wahr. Seine Organisation bekommt unter anderem Geld aus Deutschland, von der Diakonie.

Viele Menschen seien erschöpft, sagt Karacayli. Aber auch voller Hoffnung, weil ja neue Häuser gebaut werden. Doch vieles sei ungewiss: Ob sie bald eine neue Wohnung haben, ob und wie es mit der Arbeit weitergeht, ob zerrissene Familien wieder zusammenfinden. Die Frauen vieler Männer in Antakya warten mit den Kindern in anderen Städten auf eine mögliche Rückkehr.

Das alles stresst die Menschen, findet Karacayli: "Die Menschen können diesen Stress nirgends loswerden. Es fehlen Theater, Kinos oder Konzertsäle, Angebote für Kinder und Aktivitäten, damit sie sich psychosozial entwickeln, überhaupt soziale Bereiche."

Kleine Träume und tiefsitzende Trauer

Zurück im Afad-Containerdorf. Wir lernen Fatma kennen. Sie ist Ende 20. Mit ihrem Mann hat sie drei Kinder. Eine Hilfsorganisation bietet in einem Container einen Nähkurs an. Für Fatma sind die Kursstunden eine kleine Flucht aus dem Alltag. Und der Kurs gibt ihr Hoffnung auf eine bessere Zukunft. 

"Ich habe einen Kimono genäht, aber er war zu kurz. Ein Cousin hat ihn gekauft. Es war das erste, das ich verkauft habe", erzählt Fatma. Sie hoffe, dass sie so weiter machen könne. Etwas machen und es verkaufen. "Ja, ich habe Träume", sagt die junge Frau.

Für Ceylan Bahcecioglu ist schon ein Traum in Erfüllung gegangen. Zusammen mit anderen Frauen hat sie an einer neuerdings viel befahrenen Straße in ihrem Viertel ein kleines Restaurant für Hausmannskost eröffnet. Es läuft gut. Über die tiefsitzende Trauer bei ihr und den meisten anderen, auch zwei Jahre nach dem Erdbeben, hilft das aber nicht hinweg. "Antakya ist tot", sagt Ceylan. "Stell dir vor, das Zuhause, wo ich bis zu meinem 38. Lebensjahr gelebt habe, verschwindet."  

Uwe Lueb, ARD Istanbul, zzt. Antakya, tagesschau, 06.02.2025 12:46 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete das ARD Mittagsmagazin am 06. Februar 2025 um 12:10 Uhr.