
Türkischer Oppositionspolitiker İmamoğlu als Istanbuler Bürgermeister abgesetzt
Der CHP-Politiker İmamoğlu ist als Bürgermeister von Istanbul suspendiert worden - kurz nachdem ein Gericht U-Haft für den Erdogan-Rivalen angeordnet hatte. Die Bundesregierung kritisiert die Vorgänge scharf.
Kurz nachdem ein Gericht Untersuchungshaft für Ekrem İmamoğlu angeordnet hatte, ist der CHP-Politiker von seinem Amt als Bürgermeister Istanbuls vorübergehend abgesetzt worden. Das türkische Innenministerium teilte mit, İmamoğlu sei von seinen Aufgaben suspendiert worden.
Bereits vor der offiziellen Bekanntgabe durch das Ministerium hatte die CHP - die größte türkische Oppositionspartei - angekündigt, dass das Istanbuler Parlament zusammenkommen werde, um einen Stellvertreter für İmamoğlu zu bestimmen. Das Rathaus betonte in einer Erklärung, der Stellvertreter werde nur für die Zeit der Ermittlungen das Amt übernehmen.
Vorwurf der Korruption und Terrorermittlungen
Gegen İmamoğlu, der am Mittwoch festgenommen worden war, wird in zwei getrennten Verfahren ermittelt: Zum einen wegen des Vorwurfs der Korruption - wegen dieses Verdachts ordnete das Caglayan-Gericht die Untersuchungshaft für İmamoğlu an. Zum anderen wird dem nun abgesetzten Bürgermeister die Unterstützung einer terroristischen Organisation vorgeworfen.
Das Büro İmamoğlus teilte mit, das Gericht habe die Anordnung im Kontext der Terrorermittlungen vorerst als nicht notwendig erachtet, weil bereits Untersuchungshaft angeordnet worden sei. In beiden Verfahren wird gegen 106 Personen ermittelt. Auch gegen İmamoğlus Berater und viele andere wurde Untersuchungshaft angeordnet.
İmamoğlu in Hochsicherheitsgefängnis gebracht
Nach der Richterentscheidung wurde İmamoğlu zum Hochsicherheitsgefängnis in Silivri gebracht, rund 70 Kilometer westlich von Istanbul. Mit ihm dürften etwa 80 weitere Beschuldigte aus seinem Umfeld dorthin gebracht worden sein, berichtet ARD-Korrespondent Uwe Lueb.
İmamoğlu selbst bestreitet sämtliche gegen ihn vorgebrachten Anschuldigungen und bezeichnete die gegen ihn erhobenen Vorwürfe als "unvorstellbare Beschuldigungen und Verleumdungen". Auch nach der Anordnung seiner Untersuchungshaft prangerte er das Vorgehen erneut an. Es handele sich um eine "Hinrichtung ohne Gerichtsverfahren", ließ der 53-Jährige über seine Anwälte mitteilen.
Scharfe Kritik aus Deutschland
Aus Deutschland wurde scharfe Kritik am Vorgehen gegen den CHP-Politiker laut. Das Auswärtige Amt sprach von einem schweren Rückschlag für die Demokratie in der Türkei und drängte auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren für İmamoğlu. "Politischer Wettbewerb darf nicht mit Gerichten und Gefängnissen geführt werden. Wir erwarten, dass die Vorwürfe schnellstmöglich transparent aufgeklärt werden und es ein Verfahren auf Basis rechtsstaatlicher Prinzipien gibt", mahnte ein Sprecher der Behörde. Gleiches gelte für die Menschen, die sich an Protesten gegen die Festnahme des nun abgesetzten Istanbuler Bürgermeisters beteiligt hätten und festgenommen worden seien.
Auch der außenpolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, Jürgen Hardt, prangerte die Festnahme İmamoğlus an. "Der Zeitpunkt und politische Kontext der Verhaftung" ließen vermuten, dass ein politischer Konkurrent des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan "seiner demokratischen Rechte beraubt werden" solle, sagte Hardt der Zeitung Welt. "Deutschland sollte klarmachen, dass Erdogan einen weiteren Schritt Richtung Autokratie gegangen ist und dieser Weg in der Zusammenarbeit nicht akzeptiert werden kann, forderte der CDU-Politiker.
Macit Karaahmetoglu, SPD-Abgeordneter im Bundestag und dort unter anderem Vizevorsitzender der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe betonte: "Erdogan geht es letztlich nur darum, seinen größten Konkurrenten kaltzustellen. Dem Präsidenten wurde offensichtlich klar, dass er İmamoğlu mit demokratischen Mitteln nicht mehr aufhalten kann." Nun seien die Menschen in der Türkei gefragt. Wenn die Massenkundgebungen weitergingen und womöglich noch größer würden, müsse Erdogan İmamoğlu womöglich freilassen. Der wäre dann nicht mehr aufzuhalten und das wäre das Ende der Ära Erdogan.
Grünen-Außenpolitiker Max Lucks forderte, dass Deutschland den türkischen Präsidenten nun "spürbar unter Druck setzen" müsse. Es komme darauf an zu zeigen, "dass Menschenrechte und Demokratie in der Türkei für uns keine Nebensache sind", sagte er im Gespräch mit dem Handelsblatt. Lucks forderte, Lieferungen von Rüstungsgütern in die Türkei sofort zu stoppen.
Auf dem Berliner Breitscheidplatz versammelten sich am Sonntag laut Polizei etwa 1.300 Menschen, um gegen die Festnahme İmamoğlus zu protestieren. Zu der Kundgebung hatte der CHP Bund in Berlin aufgerufen.

Hunderte Demonstranten in Gewahrsam genommen
In der Türkei hatte die Festnahme İmamoğlus die größten Straßenproteste seit mehr als zehn Jahren ausgelöst. Zehntausende Menschen gingen in Istanbul, Ankara und anderen Städten auf die Straße.
Auch am Samstag hatten landesweit Proteste stattgefunden - trotz in mehreren Städten geltender Versammlungsverbote. In Istanbul versammelten sich am Abend Demonstranten direkt vor dem Caglayan-Gericht. Der Protest wurde von einem großen Polizeiaufgebot begleitet, teils kam es zu Zusammenstößen, bei denen Tränengas, Wasserwerfer und Pfefferspray gegen die Menschenmenge eingesetzt wurde.
Hunderte Menschen, die sich an den Protesten beteiligt hatten, wurden seit Mitte der Woche festgenommen. Laut des türkischen Innenministers Ali Yerlikaya wurden allein am Samstag in Istanbul 323 Personen in Gewahrsam genommen.
CHP entscheidet heute über Präsidentschaftskandidat
İmamoğlus Partei CHP hat ihre Mitglieder für heute dazu aufgerufen, ihn zum Kandidaten für die nächste Präsidentenwahl zu bestimmen. Parteichef Özgür Özel betonte das Paradoxe an der Situation: "Ekrem İmamoğlu befindet sich auf dem Weg in die Haftanstalt und befindet sich gleichzeitig auf dem Weg zur Präsidentschaft dieses Landes." Es grenze an "Mafia-Methoden", dass İmamoğlu ausgerechnet an dem Tag, an dem die CHP-Mitglieder ihren Präsidentschaftskandidaten bestimmten, in Untersuchungshaft komme, kritisierte Özel.
Die CHP hat mehr als 1,7 Millionen Mitglieder und lässt in allen 81 Provinzen der Türkei wählen. Laut Informationen der ARD-Korrespondentin Katharina Willinger sollen in den vergangenen Tagen bis zu 200.000 neue Mitglieder dazugekommen sein. Der Sender Halk TV zeigte am Sonntagmorgen Bilder von Menschenschlangen vor Wahllokalen in Städten wie Istanbul, Ankara, Izmir, Kahramanmaras und Adiyaman.

Mitglieder der CHP stimmen in der Türkei über den Präsidentschaftskandidaten ihrer Partei ab.
Votum aus Solidarität
Die CHP forderte auch Nicht-Parteimitglieder auf, für İmamoğlu zu stimmen, um den öffentlichen Widerstand gegen dessen Inhaftierung zu stärken. Viele haben sich an der Abstimmung beteiligt und ihre Stimme in sogenannte Solidaritätswahlurnen geworfen, wie ARD-Korrespondent Lueb berichtet. Das Vertrauen vieler in den "Rechtsstaat Türkei", von dem Präsident Erdogan so beharrlich spreche, sei erschüttert. "Wenn Bürger merken, dass die Justiz instrumentalisiert wird, gehen sie für eine gerechtere Regierung auf die Straße. Das war schon immer so. Deshalb sind auch wir auf den Straßen und geben hier unsere Stimme ab", sagt einer der Wählenden. Reguläre Präsidentenwahlen in der Türkei sind für 2028 angesetzt. Erdoğan könnte sie jedoch vorziehen.
İmamoğlus Festnahme ist der vorläufige Höhepunkt einer monatelangen juristischen Kampagne gegen Oppositionelle, die als Versuch kritisiert wird, deren Wahlchancen zu schmälern und abweichende Meinungen zum Schweigen zu bringen. Die Regierung weist die Vorwürfe zurück.