
Trotz Inhaftierung CHP kürt İmamoğlu zum Präsidentschaftskandidaten
Der abgesetzte Istanbuler Bürgermeister İmamoğlu soll für die Oppositionspartei CHP als Präsident kandidieren. Neben dem Votum der Parteimitglieder erhielt er Millionen symbolischer Stimmen aus der Bevölkerung.
Die größte türkische Oppositionspartei CHP hat Ekrem İmamoğlu offiziell zu ihrem Kandidaten für die Präsidentschaftswahl 2028 gewählt. Der 53-Jährige sitzt wegen Korruptionsvorwürfen in Untersuchungshaft und wurde als Bürgermeister von Istanbul abgesetzt.
Abstimmen konnten alle der etwa 1,7 Millionen CHP-Mitglieder in sämtlichen 81 Provinzen der Türkei. Davon hätten sich etwa 1,6 Millionen für İmamoğlu als Kandidaten ausgesprochen, wie Parteichef Özgür Özel vor Teilnehmern einer Demonstration für den in Untersuchungshaft sitzenden Politiker mitteilte. İmamoğlu war der einzige von der CHP aufgestellte Kandidat bei der Vorwahl.
Doch auch Nicht-Parteimitglieder waren aufgerufen, ihre Stimme über sogenannte Solidaritätswahlboxen für İmamoğlu abzugeben. Angaben aus dem Istanbuler Rathaus zufolge beteiligten sich insgesamt etwa 15 Millionen Menschen an der Abstimmung. Dabei hätten 13,2 Millionen Menschen ihre Solidarität mit İmamoğlu zum Ausdruck gebracht. Auch Özel sprach von rund 13 Millionen symbolischen Stimmen für İmamoğlu - nach der Auszählung von etwas mehr als der Hälfte aller über die Solidaritätswahlboxen abgegebenen Stimmzettel. Die Türkei hat etwa 85,6 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner.
Kandidatur trotz großer Zustimmung fraglich
Ob İmamoğlu wirklich als Gegenkandidat zu Präsident Recep Tayyip Erdogan antreten kann, bleibt jedoch unklar. Offizieller Kandidat wird er erst, wenn die als regierungsfreundlich geltende türkische Wahlbehörde YSK seine Kandidatur bestätigt. Das ist angesichts der gegen den scharfen Kritiker Erdogans eingeleiteten Ermittlungen fraglich.
İmamoğlu war am Mittwoch mit mehr als 100 weiteren Beschuldigten festgenommen worden. Gegen ihn wird in zwei getrennten Verfahren ermittelt: Zum einen wegen des Vorwurfs der Korruption, zum anderen wird ihm die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen. Sollten die Verfahren fortgesetzt werden, gilt es als unwahrscheinlich, dass die Wahlbehörde ihn offiziell zur Präsidentschaftswahl zulässt.
Zudem wurde Imamoglu in dieser Woche der Universitätsabschluss aberkannt. Die Entscheidung ist noch nicht endgültig. Ein Abschluss ist Voraussetzung für eine Präsidentschaftskandidatur in der Türkei.
Als Bürgermeister von Istanbul abgesetzt
Im Verfahren wegen mutmaßlicher Korruption hatte das Caglayan-Gericht Untersuchungshaft für İmamoğlu angeordnet. Von einer weiteren Anordnung im Verfahren zu den Terrorermittlungen gegen ihn sah der Richter ab, da bereits Untersuchungshaft angeordnet worden sei.
Nach der Richterentscheidung wurde İmamoğlu zum Hochsicherheitsgefängnis in Silivri gebracht, rund 70 Kilometer westlich von Istanbul. Mit ihm dürften etwa 80 weitere Beschuldigte aus seinem Umfeld dorthin gebracht worden sein, berichtet ARD-Korrespondent Uwe Lueb. Insgesamt wird in beiden Verfahren gegen 106 Beschuldigte ermittelt.
Kurz nach dem Richterentscheid teilte das türkische Innenministerium mit, dass İmamoğlu als Bürgermeister Istanbuls "vorübergehend" abgesetzt werden solle. Bereits vor der offiziellen Bekanntgabe durch das Ministerium hatte die CHP angekündigt, dass das Istanbuler Parlament zusammenkommen werde, um einen Stellvertreter für İmamoğlu zu bestimmen. Das Rathaus betonte in einer Erklärung, der Stellvertreter werde nur für die Zeit der Ermittlungen das Amt übernehmen.
Proteste gegen Inhaftierung dauern an
İmamoğlu selbst bestreitet sämtliche gegen ihn vorgebrachten Anschuldigungen und bezeichnete die gegen ihn erhobenen Vorwürfe als "unvorstellbare Beschuldigungen und Verleumdungen". Auch nach der Anordnung seiner Untersuchungshaft prangerte er das Vorgehen erneut an. Es handele sich um eine "Hinrichtung ohne Gerichtsverfahren", ließ der 53-Jährige über seine Anwälte mitteilen.
Seine Festnahme hatte in der Türkei die größten Straßenproteste seit mehr als zehn Jahren ausgelöst. Zehntausende Menschen gingen in Istanbul, Ankara und anderen Städten auf die Straße.
Auch am Sonntagabend kamen in Istanbul Demonstrierende zum Protest zusammen, begleitet von einem massiven Polizeiaufgebot, wie ARD-Korrespondentin Katharina Willinger berichtete. Die Wut der Menschen werde immer größer und richte sich zunehmend gegen die türkische Regierung. Auch am Samstag hatten landesweit Proteste stattgefunden - trotz in mehreren Städten geltender Versammlungsverbote.
Hunderte Menschen, die sich an den Protesten beteiligt hatten, wurden seit Mitte der Woche festgenommen. Nach Angaben des türkischen Innenministers Ali Yerlikaya wurden allein am Samstag in Istanbul 323 Personen in Gewahrsam genommen.
Scharfe Kritik aus Deutschland
Aus Deutschland wurde scharfe Kritik am Vorgehen gegen den CHP-Politiker laut. Das Auswärtige Amt sprach von einem schweren Rückschlag für die Demokratie in der Türkei und drängte auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren für İmamoğlu. "Politischer Wettbewerb darf nicht mit Gerichten und Gefängnissen geführt werden. Wir erwarten, dass die Vorwürfe schnellstmöglich transparent aufgeklärt werden und es ein Verfahren auf Basis rechtsstaatlicher Prinzipien gibt", mahnte ein Sprecher der Behörde. Gleiches gelte für die Menschen, die sich an Protesten gegen die Festnahme des nun abgesetzten Istanbuler Bürgermeisters beteiligt hätten und festgenommen worden seien.
Auch der außenpolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, Jürgen Hardt, prangerte die Festnahme İmamoğlus an. "Der Zeitpunkt und politische Kontext der Verhaftung" ließen vermuten, dass ein politischer Konkurrent des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan "seiner demokratischen Rechte beraubt werden" solle, sagte Hardt der Zeitung Welt. "Deutschland sollte klarmachen, dass Erdogan einen weiteren Schritt Richtung Autokratie gegangen ist und dieser Weg in der Zusammenarbeit nicht akzeptiert werden kann, forderte der CDU-Politiker.
Macit Karaahmetoglu, SPD-Abgeordneter im Bundestag und dort unter anderem Vizevorsitzender der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe sagte: "Erdogan geht es letztlich nur darum, seinen größten Konkurrenten kaltzustellen. Dem Präsidenten wurde offensichtlich klar, dass er İmamoğlu mit demokratischen Mitteln nicht mehr aufhalten kann." Nun seien die Menschen in der Türkei gefragt. Wenn die Massenkundgebungen weitergingen und womöglich noch größer würden, müsse Erdogan İmamoğlu womöglich freilassen. Der wäre dann nicht mehr aufzuhalten und das wäre das Ende der Ära Erdogan.
Grünen-Außenpolitiker Max Lucks forderte, dass Deutschland den türkischen Präsidenten nun "spürbar unter Druck setzen" müsse. Es komme darauf an zu zeigen, "dass Menschenrechte und Demokratie in der Türkei für uns keine Nebensache sind", sagte er im Gespräch mit dem Handelsblatt. Lucks forderte, Lieferungen von Rüstungsgütern in die Türkei sofort zu stoppen.
Auf dem Berliner Breitscheidplatz versammelten sich am Sonntag laut Polizei etwa 1.300 Menschen, um gegen die Festnahme İmamoğlus zu protestieren. Zu der Kundgebung hatte der CHP Bund in Berlin aufgerufen.

Demonstranten stehen auf dem Berliner Breitscheidplatz, um für İmamoğlu zu protestieren.