Russland Der Schein einer Wahl
Bei ausländischen Wahlen spielt Desinformation aus Russland oft eine Rolle. Für die nun anstehende Abstimmung im eigenen Land gibt es laut Experten aber keine Kampagne. Das liegt vor allem am System von Präsident Putin.
Manipulierte Videos, KI-generierte Aufnahmen, Influencer auf Parteilinie: Zur Desinformation im Ausland nutzt der Kreml die ganze Bandbreite der Möglichkeiten - vor allem im Zusammenhang mit Wahlen. In Russland selbst hingegen verzichtete Präsident Wladimir Putin offenbar auf gezielte Kampagnen im Vorfeld der Wahl, die von morgen bis Sonntag stattfinden.
Und das vor allem aus einem Grund, sagt Alena Epifanova, Research Fellow bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP): "Bevor wir über die Desinformation sprechen, macht es Sinn, zu verstehen, in welchem Informationsraum das alles stattfindet."
Da der Kreml sehr viel Wert darauf lege, den Informationsraum stark zu verengen - beispielsweise durch massive Kontrolle des Internets und die Blockierungen unabhängiger Medien -, sei eine gezielte Desinformationskampagne zur Wahl schlicht nicht notwendig, so Epifanova. "Die Wahl ist von Anfang an manipuliert. Es handelt sich daher um eine Scheinwahl, damit Putin weiterhin an der Macht bleibt."
Soziale Netzwerke größtenteils blockiert
In Russland sind unter anderem große soziale Netzwerke wie Instagram, Facebook und X blockiert, zudem existiert laut Reporter ohne Grenzen seit dem groß angelegten Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 praktisch keine Medienfreiheit mehr. Selbst die Kommunikation der Bevölkerung könne demnach vom Kreml überwacht werden.
Auch Alexander Libman, Professor für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Osteuropa und Russland an der Freien Universität Berlin, hat speziell zur Wahl keine neuen Narrative von Seiten des Kreml ausmachen können. Vielmehr seien die bereits gängigen Sichtweisen der vergangenen Jahre in verschiedenen Variationen eingesetzt worden. "Dazu gehört zum einen die nationalistische Rhetorik, dass Russland vom Westen bedroht wird", sagt Libman.
Dieses Narrativ wurde unter anderem durch die Veröffentlichung des abgehörten Gesprächs von Bundeswehroffizieren über einen möglichen Einsatz von "Taurus"-Marschflugkörpern in der Ukraine bedient. Von russischer Seite wurde der Inhalt als Kriegsvorbereitung Deutschlands gedeutet - was von Militärexperten deutlich zurückgewiesen wurde.
Verwirrung stiften mit System
Das zweite übergeordnete Narrativ, das in Russland verbreitet werde, sei eine Art Normalisierungsnarrativ, so Libman. "Das ist die Aussage, dass in Russland alles genauso läuft wie früher. Dass der Krieg, der ja offiziell gar kein Krieg ist, nur sehr wenige Menschen betrifft und der Großteil weiter so lebt wie früher." Dass das eigentlich ein Widerspruch zur gezeichneten Bedrohungslage ist, werde vom Kreml bewusst in Kauf genommen. "Dieser geplante Widerspruch erlaubt es, verschiedene Bevölkerungsgruppen zu erreichen", sagt Libman.
Noch mehr Verwirrung stifte das dritte übergeordnete Narrativ - eine grundsätzliche Verbreitung von Zweifeln an allem. "Die Aussage ist, dass man eigentlich an nichts glauben sollte", sagt Libman. "Dass das, was vom Westen oder von der russischen Opposition kommt, ebenso fragwürdig, ebenso voreingenommen ist." Das sei ein sehr effizientes Narrativ, denn es nutze die logischen Schlupflöcher oder Inkonsistenzen in der Rhetorik, die es immer gebe. "Und am Ende bringt es die russischen Bürgerinnen und Bürger dazu, dass sie an nichts glauben. Und das Regime kann das sehr geschickt ausnutzen."
Das gezielte Zünden von Nebelkerzen, um das Publikum möglichst stark zu verwirren, ist auch aus der russischen Desinformation im Ausland bekannt. So hat der Kreml beispielsweise zum Abschuss von Flug MH17 viele verschiedene, sich zum Teil widersprechende Versionen verbreitet. Alles mit dem Ziel, auch die Ergebnisse der beiden internationalen Untersuchungen zu dem Vorfall infrage zu stellen, die schon früh auf eine russische Täterschaft hindeuteten.
Keine wirklichen Gegenkandidaten
Nicht nur der Informationsraum sei in Russland stark eingeengt, auch die Präsidentenwahl werde strikt vom Kreml kontrolliert, sagt Epifanova. "Im politischen Raum hat Putin seit Jahren ein System aufgebaut, das darauf eingerichtet ist, eine echte politische Debatte auszuschalten. Das heißt, das System versucht das minimalste Risiko abzuwehren. Putin ist sehr fixiert darauf, dass er die absolute Kontrolle hat."
Das zeigt sich zum Beispiel beim Blick auf die Kandidaten: Neben Putin sind noch drei weitere Politiker zugelassen - Wladislaw Dawankow (Vizechef der russischen Duma), Leonid Slutski (Vorsitzender der ultranationalistischen Liberaldemokratischen Partei) sowie Nikolai Charitonow (Kandidat der Kommunistischen Partei). Niemand von ihnen gilt als ernsthafter Konkurrent, zum Teil unterstützen sie Putin sogar aktiv.
"Keiner der Dreien sieht sich als ein echter Kandidat", sagt Epifanova. "Es geht darum, quasi eine Alternative zu konstruieren und den Schein zu waren, dass russische Bürger eine echte Wahl haben." Wirkliche Gegenkandidaten wie der Kriegsgegner Boris Nadeschdin wurde hingegen die Registrierung zur Präsidentenwahl verwehrt. Nadeschdin hatte den Krieg gegen die Ukraine als "fatalen Fehler" bezeichnet. Auch die ehemalige Fernsehjournalistin und Kriegsgegnerin Jekaterina Dunzowa darf nicht antreten.
Wahlmanipulation wird erwartet
Russischen Medienberichten zufolge peilt Putin bei der Wahl ein Ergebnis um die 80 Prozent an - damit würde er sein bestes Resultat von 76,69 Prozent bei der vergangenen Abstimmung 2018 noch einmal übertreffen. Dass er das erreichen wird, gilt für Experten als sehr wahrscheinlich. "Die Vorbereitungen sind sozusagen schon alle getroffen, dass ein gewünschtes Ergebnis herauskommt", sagt Libman und spielt damit auf mögliche Wahlmanipulation an.
Bereits bei den vergangenen Wahlen gab es zahlreiche Berichte von Wahlmanipulation in Russland. So zeigten Videos unter anderem, wie Mitglieder der Wahlkommission mutmaßlich Stapel von Wahlzetteln in die Wahlurne warfen. Eine wichtige Rolle spielt dabei aus Sicht von Epifanova das Online-Voting, das auf der völkerrechtswidrig annektierten Krim und in vielen Regionen Russlands eingesetzt wird. Dieses Tool sei vom Kreml für massiven Wahlbetrug vorbereitet worden. Auch in den von Russland völkerrechtswidrig annektierten Gebieten in der Ukraine seit Beginn der Invasion rechnen Experten wie bei den Scheinreferenden mit Manipulationen.
Wichtig bei der Dokumentation solcher Betrugsversuche war in der Vergangenheit die unabhängige Wahlbeobachterorganisation Golos. Diese erfährt jedoch seit Jahren einen enormen Druck vom Staat, einer der Vorsitzenden sitzt im Gefängnis. Im Jahr 2021 wurde Golos vom russischen Justizministerium auf die Liste der sogenannten ausländischen Agenten gesetzt. Auch Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sind nicht erwünscht - stattdessen wurden offenbar AfD-Abgeordnete des bayerischen Landtags eingeladen.
"Wahlen sind nicht wettbewerblich"
Einem Bericht des russischen Exilmediums Meduza zufolge wurden zudem von der Regierung abhängige Wähler wie Beamte unter Druck gesetzt, eine gewisse Anzahl an Wählern zu den Wahllokalen mitzubringen. Demnach mussten Staatsbedienstete und Geschäftsleute mehrere Wochen vor der eigentlichen Wahl die Namen, Telefonnummern und E-Mail-Adressen der Personen angeben, die sie zur Wahl bringen wollen. Auf diese Weise soll unter anderem die Wahlbeteiligung manipuliert werden - auch das hat es in der Vergangenheit bereits gegeben.
Aus all den Gründen kann aus Sicht von Libman daher nur von einer Scheinwahl gesprochen werden: "Wir wissen, dass in Russland zu Wahlen keine Kandidaten zugelassen wurden, die wirklich eine Opposition zum Kreml bilden. Wir wissen, dass der Kreml massive Kontrolle über Massenmedien ausübt. Und deswegen kann man schon vom Anfang an sagen, dass diese Wahlen nicht wettbewerblich sind."
Dessen sind sich auch die Gegner Putins in Russland bewusst, sagt Epifanova. Das Team des im Straflager verstorbenen Kremlkritikers Alexej Nawalny sowie viele andere Oppositionelle und unabhängige Journalisten riefen daher lediglich dazu auf, dass alle, die gegen Putin sind, am letzten der drei Wahltage um zwölf Uhr zum Wahllokal gehen sollen, um ihren Protest zu zeigen. Denn Hoffnung, dass ihre Stimmen wirklich einen Unterschied machen können, hätten sie schon lange nicht mehr.
Abgestimmt wurde auch in den besetzten Gebieten der Ukraine - unter fragwürdigen Umständen.
Einen eigentlichen Wahlkampf hatte es im Vorfeld kaum gegeben, wohl aber Berichte unabhängiger Journalisten über Druck auf Beamte und Beschäftigte staatlicher Betriebe, sich zur Abstimmung registrieren zu lassen und mindestens zehn Personen mitzubringen.
Für unabhängige Wahlbeobachter gab es hohe Hürden, etwa wurde die Organisation "Golos" mehrfach als "Ausländischer Agent" gebrandmarkt und aufgelöst. Aus dem Ausland angekündigt waren vor allem Vertreter aus Staaten, die starke Sympathien für die russische Führung hegen wie Serbien beziehungsweise selbst autokratisch bis diktatorisch regiert werden (Venezuela, Myanmar, Kamerun). Aus Deutschland wollten drei Abgeordnete der AfD als "Experten für Demokratie" einreisen.
Bei früheren Wahlen hatte es in Russland stets Meldungen und Beweisvideos von Manipulationen an den Wahlurnen, Mehrfachabstimmungen oder Anreizen wie üppigen Buffets der Regierungspartei "Einiges Russland" in Wahllokalen gegeben. Proteste wurden von Sicherheitskräften in kürzester Zeit unterbunden und zogen meist eine Strafverfolgung nach sich.
Jasper Steinlein, tagesschau.de