Drogenhandel "Wir werden den Krieg nie gewinnen"
Der Hack des Kryptohandy-Anbieters EncroChat vor vier Jahren galt als großer Schlag gegen die organisierte Kriminalität - vor allem gegen den Drogenhandel. Doch es gibt Zweifel an der Nachhaltigkeit des Ermittlungserfolgs.
"Vielleicht wäre ich heute nicht so kriminell, wenn Encro nicht geplatzt wäre", spekuliert ein Drogendealer, während er in Berliner Wohnvierteln kleine Röhrchen mit Kokain ausliefert. "Dann wäre ja nicht alles aus den Fugen geraten", sagt er. In der Szene sei auf einmal ein Vakuum entstanden, sodass er mit seinen 18 Jahren "mit Knarre und Koks in der Tasche" auf der Straße unterwegs sein könne. Durch die EncroChat-Ermittlungen kam es in Deutschland zu mehr als 1.700 Festnahmen. Mit Gewalt würden nun neue Akteure versuchen, sich ihren Platz zu sichern, weil die Strukturen neu geordnet werden mussten, vermutet der Dealer.
Das ist aber nicht nur die Vermutung eines Berliner Drogendealers, es gibt ähnliche Stimmen aus der Politik. "Natürlich löst das auch in diesen Strukturen zum Teil neue Verteilungskämpfe aus", sagte Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD) am Rande des Hafensicherheitsgipfels in der Hansestadt im Mai 2024. Der Hamburger Hafen ist das das deutsche Einfallstor für Kokain. Zoll und Polizei verzeichnen auch in diesem Jahr wieder Funde von mehreren Tonnen.
Trotz der großen Drogenfunde und der vielen Verurteilungen durch den EncroChat-Hack deutet nichts darauf hin, dass weniger Drogen ins Land kommen oder dass die organisierte Kriminalität geschwächt sei. Zahlen der European Union Drugs Agency zeigen zum Beispiel, dass der Preis pro Kilogramm Kokain günstiger wird, während die Reinheit zunimmt.
Zunächst noch Optimismus nach Schlag gegen EncroChat
Im Jahr 2022 war Innenministerin Nancy Faeser optimistisch im Kampf gegen die organisierte Kriminalität etwas ausrichten zu können: "Konkret geht es um die nachhaltige Zerschlagung krimineller Strukturen." Der Grund für Faesers Optimismus: Im Sommer 2020 war französischen und niederländischen Ermittlern ein Coup gelungen. Sie schalteten den Server des Kryptohandy-Anbieters EncroChat für 40 Minuten ab und installierten eine Schadsoftware auf den Geräten. Mehr als zwei Monate konnten die Ermittler mitlesen, wie Zehntausende Kriminelle - vermeintlich abhörsicher - schwere Straftaten planten. Millionen von Chats konnten sichergestellt werden.
Die EncroChat-Nutzer tauschten sich dort über den tonnenweisen Schmuggel Rauschgift, den Handel mit scharfen Schusswaffen aus oder planten Gewalttaten wie Folter. Bis heute laufen dazu Gerichtsverfahren in Deutschland. Derweil steigt die Schusswaffenverwendung auf der Straße nach dem Ende von EncroChat an. In Berlin erreicht die Kriminalstatistik 2023 sogar ihren Höchststand. In Nordrhein-Westfalen kam es zu einer Explosionsserie und einer Geiselnahme unter Drogenhändlern in Köln. In Hamburg schossen mutmaßlich Mitglieder aus dem Drogenmilieu im Wohnviertel Tonndorf aufeinander.
"Durch diese Encro-Geschichte sind so viele neue Organisationen, kleine Gruppierungen entstanden", berichtet ein illegaler Waffenhändler, dem Reporter des Investigativformats STRG_F. Der Händler zeigt einige seiner Schusswaffen aus seinem Sortiment. Auch eine Kriegswaffe ist darunter. Er erzählt von einer wachsenden Nachfrage: "Leute wollen Geld verdienen, schnelles Geld verdienen. Die gehen über Leichen."
An Hintermänner kommen Ermittler nur schwer ran
"Wir werden den Krieg nie gewinnen gegen den Rauschgifthandel", resümiert Jan Reinecke, Landesvorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter in Hamburg. Er denkt, man müsse sich mehr auf die Hintermänner fokussieren, um den größten Schaden zu verursachen. Die Strategie verfolgen auch Europol und deutsche Ermittlungsbehörden. Doch Reinecke sieht dabei ein Problem: "Wir kommen mit unseren Mitteln und Möglichkeiten gar nicht an die Hintermänner ran." Auch Bundesinnenministerin Faeser sagte im Mai 2024: "Wir wollen natürlich an die Hintermänner rankommen. Das ist das erste Ziel. Das ist aber auch das Schwierigste."
Jan Reinecke schlägt neben Maßnahmen gegen Geldwäsche vor allem ein Anti-Mafia-Gesetz vor. Solch ein Gesetz soll es möglich machen, Mitglieder einer kriminellen Gruppierung nur dafür zu bestrafen, Teil eines solchen Netzwerks zu sein. Zurzeit ist dies nur möglich, wenn ihnen konkrete Straftaten nachgewiesen werden können. Das Bundesinnenministerium hält ein solches Gesetz jedoch auf Anfrage für nicht erforderlich und verfassungsrechtlich problematisch.
Eine Abfrage von STRG_F bei allen Landeskriminalämtern und 80 Staatsanwaltschaften hat ergeben, dass durch die EncroChat-Ermittlungen bis jetzt hauptsächlich Zwischenhändler inhaftiert wurden. Es gibt kaum Hinweise, dass deutsche Ermittler an Auftraggeber oder Hintermänner gekommen sind. Lieferketten in die Produktionsländer des Kokains konnten auch kaum nachvollzogen werden.
Lücken werden schnell wieder geschlossen
Vier Jahre nach dem EncroChat-Hack hält auch das Bundeskriminalamt daran fest, dass ein nachhaltiger Schlag gegen die organisierte Kriminalität gelungen sei, auch wenn die Statistiken das nicht zeigten. "Da wo Lücken entstehen, werden auch Lücken wieder geschlossen", fasst der leitende Polizeidirektor Heiko Löhr zusammen. Man müsse sich wohl damit abfinden, dass neue Akteure sich wieder einen Platz suchen.
Der Strafrechtswissenschaftler Arndt Sinn warnt nach den EncroChat-Ermittlungen davor, "dass die Verfolgung der organisierten Kriminalität stagnieren wird" und "die Strafverfolgungsorgane in die alten Muster verfallen, nur illegale Produkte aus dem Markt zu nehmen, die kleinen Fische zu verfolgen und keine Strukturermittlungen vorzunehmen". Tatsächlich zeigt das aktuelle Bundeslagebild organisierte Kriminalität, dass die Zahl der abgeschlossenen Verfahren sinkt und im Vergleich zum Vorjahr zwei Drittel weniger an Vermögenswerten gesichert werden konnten.