Nach Gewalttaten in Ungarn Untergetauchte Linksradikale stellen sich
Mehrere in Deutschland gesuchte Linksradikale haben sich laut NDR und WDR den Behörden gestellt. Nach ihnen war fast zwei Jahre gefahndet worden, weil sie im Verdacht stehen, mutmaßliche Neonazis in Ungarn zusammengeschlagen zu haben.
Sieben untergetauchte Linksradikale haben sich nach Informationen von NDR und WDR am Montagvormittag den Behörden gestellt. Sie stellten sich unter anderem am Amtsgericht Kiel und Polizeipräsidien in Hamm, Köln und in Bremen. Die Verdächtigen im Alter zwischen 21 und 27 Jahren kommen in Untersuchungshaft, zudem droht womöglich die Auslieferung nach Ungarn.
Die Verdächtigen stehen nach Auffassung ungarischer Ermittler und der Bundesanwaltschaft im Verdacht, im Februar 2023 an Angriffen auf mutmaßliche Neonazis in Budapest beteiligt gewesen zu sein. In der ungarischen Hauptstadt findet jährlich der sogenannte "Tag der Ehre" statt, ein rechtsradikaler Aufmarsch, bei dem Teilnehmer unter anderem in SS- und Wehrmachtsuniformen mitlaufen. Er soll an den Ausbruchsversuch von Wehrmachtssoldaten, SS-Angehörigen und ungarischen Soldaten erinnern, die 1945 aus der von der Roten Armee eingekesselten Stadt fliehen wollten.
2023 blieben die Proteste gegen den Aufmarsch nicht friedlich. Mehrere Personen, darunter tatsächliche und mutmaßliche Neonazis, wurden in den Tagen vor der Veranstaltung in Budapest angegriffen und teils schwer verletzt. Ungarische und deutsche Behörden ermitteln wegen der Gewalttaten und der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung gegen mehrere Verdächtige, darunter insgesamt 13 Deutsche und zwei Italiener.
Die Ermittlungen gegen die Deutschen hat inzwischen der Generalbundesanwalt übernommen - teils auch im Zusammenhang mit dem sogenannten "Antifa Ost"-Verfahren rund um Lina E.
Sechs der sieben Verdächtigen, die sich nun gestellt haben, sollen bis zum Dienstagabend nach Karlsruhe gebracht und dem Haftrichter am Bundesgerichtshof vorgeführt werden, sagte eine Sprecherin der Bundesanwaltschaft auf Nachfrage. Ihre Haftbefehle seien vom BGH erlassen worden.
Anwälte fordern faires Verfahren in Deutschland
Die Verdächtigen waren untergetaucht, weil sie eine Auslieferung nach Ungarn befürchten. Dort könnte sie eine längere Haft und harte Haftbedingungen erwarten. Zudem gilt die Unschuldsvermutung für die Verdächtigen.
Der Gesuchte Paul M., der sich in Kiel stellte, wollte sich zu den Vorwürfen nicht äußern, gab aber ein vorformuliertes Statement ab: "Wir stehen hier heute für die Freiheit und für das Leben. Für eine Welt ohne Faschismus und Unterdrückung. Wenn man uns dafür die Freiheit nehmen will, soll man es tun." Anschließend gingen er, eine weitere Gesuchte sowie die Anwälte beider ins Amtsgericht, um sich zu stellen.
Der Anwalt einer 22-Jährigen, Lukas Bastisch, sagte, seine Mandantin habe sich freiwillig und trotz des Risikos einer Auslieferung nach Ungarn gestellt. "Ein faires Verfahren ist unter der rechtsautoritären Regierung in Ungarn nicht gewährleistet." Der jungen Frau drohe eine "überlange Haftstrafe von bis zu 24 Jahren", zudem verstießen die ungarischen Haftbedingungen gegen "menschenrechtliche Mindeststandards", sagte Bastisch in Hamm. "Die Auslieferung darf durch die deutschen Behörden nicht bewilligt werden."
Ähnlich äußerte sich die Verteidigerin Antonia von der Behrens, deren Mandantin sich in Köln der Polizei stellte: "Ich werde alles dafür tun, dass meine Mandantin nicht an das rechtsautoritäre ungarische Regime ausgeliefert wird, dass sie nicht unmenschlichen Haftbedingungen ausgesetzt sein wird", sagte die Anwältin. Eine Auslieferung wäre in ihren Augen "grob rechtswidrig".
Bereits Anfang 2024 hatten sie den Behörden über Anwälte und Medien signalisiert, sich stellen zu wollen - gegen die Zusicherung, nicht nach Ungarn ausgeliefert zu werden und ein faires rechtsstaatliches Verfahren in Deutschland zu bekommen. Juristisch wäre dies möglich, aber die Justiz ließ sich nicht darauf ein.
Eine Zusage, nicht nach Ungarn ausgeliefert zu werden, gibt es nach Informationen von NDR und WDR auch jetzt nicht. Sollten deutsche Gerichte entscheiden, dass die Personen nach Ungarn überstellt werden, können diese beim Bundesverfassungsgericht Beschwerde einlegen.
Auslieferung von Maja T. nach Ungarn
Dies hatten auch die Verteidiger von Maja T. versucht. Die Festnahme und Auslieferung von Maja T. hatte im Juni vergangenen Jahres wegen des Vorgehens von Polizei und Generalstaatsanwaltschaft Berlin Aufsehen erregt. Nachdem das Berliner Kammergericht am Abend die Auslieferung nach Ungarn erlaubt hatte, wurde Maja T. noch in der Nacht aus der Zelle geholt und über Österreich nach Ungarn ausgeliefert.
Das Bundesverfassungsgericht hatte dies in einer Eilentscheidung vorläufig untersagt - doch Maja T. befand sich zu diesem Zeitpunkt schon in Ungarn, außer Reichweite der deutschen Behörden. Wie die Verteidiger T.s später aus Akten erfuhren, war die Aktion von Polizei und der Generalstaatsanwaltschaft Dresden lange vorbereitet worden. Sie werfen den Behörden vor, den Rechtsschutz des Bundesverfassungsgerichts bewusst unterlaufen zu haben.
Der Jurist Martin Heger, Professor an der Humboldt-Universität in Berlin, spricht in diesem Zusammenhang von einer Orchestrierung durch die Behörden. Zwar seien die einzelnen Vorgänge, wie das Auslieferungsurteil und die Überstellung nach Ungarn, für sich genommen legal gewesen. Doch sie seien so orchestriert worden, dass der Rechtsschutz Maja T.s ausgehebelt worden sei. "Das halte ich für eine sehr, sehr problematische Gesamtentscheidung", sagt Heger im Interview mit dem NDR.
In einer Pressemitteilung hatte die Generalstaatsanwaltschaft Berlin nach der Auslieferung geschrieben: Die Auslieferung von Maja T. entspreche ganz den Abläufen bei einem Europäischen Haftbefehl.
Berichte über harte Haftbedingungen
Maja T. drohen in Ungarn laut Anklage bis zu 24 Jahre Haft. Sollte T. die angeklagten Vorwürfe umfassend einräumen und so für einen schnelleren Prozess sorgen, stellte Ungarn 14 Jahre Haft in Aussicht - beide Strafen gehen deutlich über das Strafmaß hinaus, das in Deutschland für vergleichbare Taten drohen würde.
T. sitzt seit mittlerweile mehr als einem halben Jahr in Untersuchungshaft in einer Isolationszelle und berichtet über von Ungeziefer befallene Zellen und teils verschimmeltes Essen. Ähnliche Eindrücke hatte auch die Italienerin Ilaria Salis geschildert, die zunächst in U-Haft und später in Hausarrest in Budapest saß. Sie wurde bei der vergangenen Europawahl ins EU-Parlament gewählt und musste von den ungarischen Behörden daher freigelassen werden.
Anders als in Deutschland hatte ein italienisches Gericht eine Auslieferung des ebenfalls im Budapest-Komplex beschuldigten Gabriele M. nach Ungarn mit Verweis auf die Haftbedingungen abgelehnt.
Könnte sich der Fall Maja T. wiederholen?
Auch die Verdächtigen, die sich jetzt gestellt haben, könnten theoretisch wie Maja T. nach Ungarn überstellt werden, sagt Jurist Heger. Allerdings glaube er nicht, dass eine Behörde "nochmal so provokativ agiert", denn dies käme einer Brüskierung des Bundesverfassungsgerichts gleich. Das Gericht habe seine Kritik am Ablauf von Maja T.s Auslieferung sehr deutlich gemacht, sagt Heger.