Reportage aus Japan Das vielfache Vergessen von Fukushima
Knapp ein Jahr nach dem Super-GAU ist die Reaktorkatastrophe von Fukushima weitgehend aus den Schlagzeilen verschwunden. Dabei bleibt die Lage im Reaktor heikel. In Block 2 steigt die Temperatur wieder an - der Betreiber Tepco macht dafür ein fehlerhaftes Thermometer verantwortlich. Und die Menschen im Norden Japans leiden nicht nur unter Folgen der radioaktiven Strahlung, sondern auch unter dem Vergessen.
Von Jürgen Döschner, WDR
"Fukushima ist für uns ein Beweis für die Zuverlässigkeit der Nukleartechnik. Schauen Sie: Wir hatten in Fukushima den schlimmsten anzunehmenden Unfall. Und was ist passiert? Nichts! Es gibt nicht ein einzigen Toten, und Experten werden Ihnen bestätigen: Niemand wird durch freigesetzte Strahlung krank werden oder früher sterben."
Diese Worte von John Rich, dem Generaldirektor des Weltverbands der Nuklearindustrie (WNA), die er mir im September letzten Jahres bei einem Interview in London ins Mikrophon gesagt hatte, begleiteten mich vom ersten Tag an auf meiner Reise nach Japan.
Knapp ein Jahr nach "3/11", wie der Tag des Unglücks in Anlehnung an den 11. September 2001 in Japan inzwischen genannt wird, wollte ich mir selbst ein Bild davon machen, welche Spuren die größte Reaktorkatastrophe seit Tschernobyl in diesem Land hinterlassen hat - auf den Straßen, Feldern und Dächern der Städte rund um den Reaktor, aber auch in den Köpfen und Herzen der Menschen.
Flimmern und Rauschen wie vor dem Super-GAU
Mein erster Eindruck nach meiner Ankunft in Tokio war ernüchternd: Für die Bewohner der Millionen-Metropole scheint Fukushima genauso weit weg zu sein wie für die Menschen in Köln oder Berlin. Auf den Straßen herrscht Betriebsamkeit, wie man sie von Fotos oder Filmen her kennt. An dem Tag meiner Ankunft demonstriert ein kleines Grüppchen Atomkraft-Gegner vor dem Eingang zum beliebten Yoyogi-Park. Doch die meisten Menschen gehen achtlos vorbei. Am Abend flimmert und leuchtet die Stadt, keine Spur von Stromausfällen - obwohl inzwischen nur noch ganze drei der einst 54 AKW des Landes am Netz sind.
Dieser Eindruck von Normalität verblasst jedoch, sobald man Tokio verlässt. Schon bei der Routenplanung wird deutlich: Hier in Japan ist auch knapp ein Jahr nach der Reaktorkatastrophe längst noch nicht alles "normal". Um zu unserem nächsten Ziel, nach Minamisoma zu kommen, müssen mein japanischer Producer Tak und ich einen kilometerweiten Umweg fahren. Denn die direkte Autobahnverbindung führt durch die 20-Kilometer-Zone und ist gesperrt.
Für die meisten Japaner ein Umstand, der kaum auffällt. Denn schon vor dem Reaktorunglück verirrte sich kaum ein Tokioter in diese ländliche Region im Norden, erklärt mir Tak. Und jetzt erst recht nicht. Da hilft es auch wenig, dass die Regierung die Autobahngebühren für die Strecken in den Norden aufgehoben hat.
Kaum jemand schaut noch hin
Den Menschen in der Region Fukushima droht also schon ein Jahr nach dem Super-GAU das dreifache Vergessen: Vergessen durch die eigene Regierung, durch die Bevölkerung im eigenen Land - und vergessen durch den Rest der Welt.
In der Stadt Minamisoma wird das besonders deutlich. Hier wohnen von einst 70.000 Menschen noch immer rund 50.000, vorwiegend Ältere, Alleinstehende. Die Zahl der Selbstmorde nimmt zu, sagt Taikan Hoshimi. Der buddhistische Mönch betreut viele jener Menschen, die nicht mehr die Kraft und manchmal auch nicht das Geld haben, sich eine neue Bleibe zu suchen.
Sie leben in ständiger Angst vor der unsichtbaren Gefahr namens Radioaktivität, verunsichert und getäuscht von Staat und Regierung, allein gelassen von den eigenen Kindern und Enkelkindern, die längst weggezogen sind. Minamisoma liegt am Rand der 20-Kilometer-Sperrzone. Aber die Strahlenwerte in Teilen der Stadt sind so hoch, dass auch diese Gegend eigentlich evakuiert werden müsste.
Kosmetische Mittel gegen Radioaktivität
Reinigungstrupps mit Schaufeln, Hochdruckreinigern und Kleinbaggern versuchen im Auftrag der Stadtverwaltung einige Häuser von den radioaktiven Partikeln zu "säubern". Doch die Wirkung dieser Dekontamination ist zweifelhaft und hält kaum bis zum nächsten heftigeren Wind.
"Verbrecher" nennt Bansho Miura die Verantwortlichen der Stadt. Eigentlich müssten große Gebiete des Stadtgebietes evakuiert werden, meint der Leiter der Strahlenschutz-Initiative "HCR". Doch stattdessen werde der Eindruck erweckt, alles sei auf dem Weg der Besserung. Sogar eine Grundschule direkt am Rand der Sperrzone soll wieder geöffnet werden. Dabei misst Bansho auf dem Schulweg Strahlenwerte von über 50 Millisievert pro Jahr – das ist das 50-Fache des zulässigen Grenzwertes.
Ein Schleier aus Strahlung
Radioaktivität kann man nicht sehen, nicht riechen, nicht schmecken. Aber hier, in gut 20 Kilometer Abstand zum AKW Fukushima, kann man sie fühlen. Sie ist wie ein Schleier, der sich über die Stadt, über viele Städte gelegt hat. Ein Jahr nach der Reaktorkatastrophe hat sich vielleicht das Leben im fernen Tokio wieder normalisiert. Doch hier im Norden, in den vielen strahlenbelasteten Dörfern und Städten rund um das AKW - auch außerhalb der 20-Kilometer-Sperrzone - herrscht nach wie vor ein unausgesprochener Ausnahmezustand. Und das wird wohl auch die nächsten Jahre und Jahrzehnte so bleiben.
Nein, Mr. Rich, Tote oder Strahlenkranke habe ich auf meiner Reise tatsächlich nicht gesehen. Aber ob man in zehn oder 20 Jahren immer noch behaupten kann, dass niemand wegen der erhöhten Strahlung erkrankt oder früher stirbt, daran habe ich nach dieser Reise doch erhebliche Zweifel.
Unser Autor hat über seine Reise in den verstrahlten Norden Japans auch ein Online-Tagebuch geführt, das Sie hier lesen können. Ein ausführliches Feature von Jürgen Döschner zum Thema überträgt WDR 5 am 11. März um 11:05 Uhr unter dem Titel "Kernschmelze - Fukushima und die Folgen".