Interview

Interview zur Opposition in Ägypten "Muslimbruderschaft ist Gewinner der Proteste"

Stand: 16.02.2011 16:23 Uhr

Inwiefern ist das Militär in Ägypten bereit, Macht abzugeben? Von dieser Frage hängt die Demokratisierung ab, meint der Politikwissenschaftler Holger Albrecht im Interview mit tagesschau.de. Von schnellen Wahlen würde am ehesten die Muslimbruderschaft profitieren, sie sei am besten organisiert.

tagesschau.de: Die Massenproteste in Kairo sind vorüber, wer ist der Gewinner der Protestbewegung?

Holger Albrecht: Die Muslimbruderschaft ist einer der Gewinner der Protestbewegung, da die Militärs und die politischen Organisationen nun gezwungen sind, sie in größerem Maße wahrzunehmen. Sie ist im Moment überall mit dabei, schaut sich die Entwicklungen an, aber hält sich relativ bedeckt. Sie ist sehr flexibel, ihr Fähnchen in den Wind zu hängen. Die Muslimbruderschaft ist die einzige Organisation, die ein Interesse an schnellen demokratischen Wahlen hat, weil sie als einzige Gruppe sowohl Organisationspotential als auch eine Massenbasis hat.

Zur Person
Holger Albrecht ist Politikwissenschaftler und seit 2008 Assistenzprofessor an der American University in Kairo. Er hat über das politische System Ägyptens promoviert und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit autoritären Regimen in der arabischen Welt.

tagesschau.de: Wie schätzen Sie das Demokratiepotential der Muslimbruderschaft ein?

Albrecht: Die Muslimbruderschaft wäre grundsätzlich bereit, mit die Macht zu übernehmen. Ob das in Kooperation mit dem Militär oder anderen Gruppen der Fall ist oder erneut in einem autoritären Rahmen stattfindet, da ist sie flexibel. Das gilt aber auch für andere politische Gruppen. Wenn sich ein stabiles repräsentatives System etablieren sollte, wird die Muslimbruderschaft ähnlich flexibel sein wie die Islamisten in der Türkei. Aber sie ist eine heterogene Gruppe: Auf der einen Seite stehen diejenigen, die sehr gern am politischen Prozess teilnehmen möchten, auf der anderen Seite aber steht die jetzige Führung, die die Muslimbruderschaft eher als Sozialbewegung sieht. Diese Seite könnte gut damit leben, wenn die Bruderschaft im politischen Prozess keine bedeutende Rolle spielt.

tagesschau.de: Welche Oppositionsgruppen bringen sich im Moment in Stellung?

Albrecht: Zum einen die Oppositionsgruppen, die sich schon vor dem Sturz Mubaraks formiert hatten: die Oppositionsparteien, zivilgesellschaftliche Gruppen, Menschenrechtsorganisationen. Der Terminus Bewegung passt auf sie nicht, da sie wenig Rückhalt in der Bevölkerung haben. Es bleibt abzuwarten, ob sich aus der Facebook-Generation, die bei der Mobilisierung der Demonstrationen eine ganz starke Rolle gespielt hat, einzelne Gruppen und Bewegungen bilden werden. Im Moment ist es dafür wohl noch zu früh.

tagesschau.de: Wovon hängen die weiteren Entwicklungen ab?

Albrecht: Die Sollbruchstelle für mögliche Konflikte liegt innerhalb des Militärs. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten bereits eine herausragende politische Rolle gespielt haben, wie Vizepräsident Omar Suleiman, der langjährige Verteidigungsminister Hussein Tantawi, Ministerpräsident Ahmed Schafik und die Gouverneure. Auf der anderen Seite stehen die, die im Schnitt 15 bis 20 Jahre jünger sind, bislang rein militärische Aufgaben übernommen haben und noch nicht im politischen System hervorgetreten sind. Zum Beispiel Generalstabschef Sami Anan, andere wichtige Militärs mit Major-Rang und auch Führer einzelner regionaler Truppenteile. Hier besteht großes Konfliktpotential und man muss ganz genau beobachten, was in nächster Zeit innerhalb des Militärs passiert.

"Einfluss des Westens wird überschätzt"

tagesschau.de: EU-Außenkommissarin Catherine Ashton hat angekündigt, die Reformen in Nordafrika mit Milliardenhilfen unterstützen zu wollen. Wie wird diese Ankündigung vor Ort aufgenommen?

Albrecht: Die Ankündigung von Frau Ashton wird durchaus positiv aufgenommen, aber generell stehen die Menschen einer Einmischung von außen eher misstrauisch gegenüber. Ich halte die Einflussmöglichkeiten des Westens und vor allem der Amerikaner, wie sie im Ausland und in der Medienlandschaft wahrgenommen werden, für überschätzt. Es geht hier um fundamentale Fragen für diejenigen, die an der Macht sind, nämlich ob sie diese abgeben oder nicht. Und vor diesem Hintergrund sind ein paar Milliarden kaum relevant.

tagesschau.de: Der Weg zu einer Demokratie ist lang. Wie schätzen Sie die Erfolgschancen für Ägypten ein?

Albrecht: Es sind drei mögliche Szenarien vorstellbar: Ein türkisches Szenario: Das würde bedeuten, dass sich das Militär zeitnah aus dem politischen Prozess zurückzieht, eine Position im Hintergrund einnimmt, alles observiert und zulässt, dass sich ein kompetitives Parteiensystem entwickelt. Ein algerisches Szenario wäre ebenso möglich. Dort hat das Militär Anfang der 90er Jahre die Macht übernommen und dann eine Art Junta-Regime etabliert. Es gibt also mehrere Generäle, die die Macht gemeinsam ausüben. Ein drittes, aber nicht sehr wahrscheinliches Szenario wäre das sudanesische. Da ging das Militär eine Kooperation mit einer Gruppe in der Gesellschaft ein, die über einen großen Rückhalt in der Bevölkerung verfügt. Das könnte in Ägypten die Muslimbruderschaft sein. Das ist aber deswegen relativ unwahrscheinlich, weil in Ägypten die Generäle des alten Regimes die Zügel in der Hand halten und die wiederum große Vorbehalte gegenüber der Muslimbruderschaft haben. Wenn das Militär nicht bereit ist, die Macht an ein demokratisches System abzugeben, wird es langfristig das Problem haben, dass es über keine Legitimation verfügt.

Das Interview führte Barbara Jung für tagesschau.de