Krise in Nigeria Ein Land im freien Fall
Nigeria befindet sich in einer der schlimmsten wirtschaftlichen Krisen der vergangenen Jahrzehnte, mit gravierenden humanitäre Folgen. Dazu beigetragen haben auch Entscheidungen von Präsident Tinubu.
Millionen Menschen kämpfen in Nigeria aktuell um ihr Überleben. "Was hier gerade passiert, ist eine Existenzkrise", sagt Oladeinde Olawoyin. Der Journalist aus Lagos ist Wirtschaftsreporter bei der Pulitzer-Preis prämierten Onlinezeitung Premium Times. Nur wenige könnten sich in seinem Heimatland noch genügend Lebensmittel und Medizin leisten.
Vor zwei Jahren galt die nigerianische Wirtschaft noch als die stärkste in Afrika. Aktuelle Prognosen sehen das bevölkerungsreichste Land des Kontinents nur noch auf Platz vier. "Maßnahmen der Regierung haben die Inflation in die Höhe schnellen lassen, das Wirtschaftswachstum massiv abgebremst und in der Folge zu erheblichen Preissteigerungen geführt", sagt Marija Peran, Leiterin des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Nigerias Hauptstadt Abuja.
Der Großteil der Bevölkerung kommt auf weniger als zwei volle Mahlzeiten am Tag; zwei Drittel würden bereits in Armut leben. Laut dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen könnte von Juni bis August 2024 mehr als jede zehnte Person in Nigeria unter akutem Hunger leiden.
Bei Nahrungsmittelausgaben kam es deshalb bereits zu Massenpaniken mit mehreren Toten. Medien berichten zudem von überfüllten Krankenhäusern, in denen Menschen wegen Mangelerscheinungen behandelt werden müssen. Gewerkschaften im öffentlichen Dienst organisieren Streiks, um für Löhne von umgerechnet circa 20 Dollar im Monat zu kämpfen und damit Überleben zu sichern.
Zwischen 75 und 92 Prozent der berufstätigen Nigerianer arbeiten jedoch im informellen Sektor - ohne Gewerkschaften, ohne feste Löhne. "Diese Menschen kommen noch gerade so über die Runden", sagt Olawoyin.
Die Regierung versucht durch Getreideausgaben die Menschen mit dem Nötigsten zu versorgen. Dies reicht jedoch häufig nicht.
Tinubus Wagnis
Die Wurzeln der aktuellen Krise lägen Jahrzehnte zurück, sagt der Journalist. Vergangene Regierungen hätten das Land mit zu wenig Weitsicht und schwachen fiskalpolitischen Entscheidungen in eine katastrophale Lage manövriert. Bei seiner Vereidigung im Mai des vergangenen Jahres kündigte Präsident Bola Tinubu an, sich den geerbten Problemen zu stellen - das hatte Folgen.
"Die aktuelle Krise ist weitgehend auf zwei wesentliche Reformen zurückzuführen, die Bola Tinubu mit seinem Amtsantritt vor gut einem Jahr verabschiedet hat", sagt Marija Peran. In einer der Reformen entkoppelte Tinubu den Naira-Wechselkurs von dem des US-Dollars.
Was langfristig die Währung stärken soll, sorgte realpolitisch für einen 70-prozentigen Wertabfall des Nairas gegenüber dem Dollar. Ausländische Investitionen nahmen 2023 laut der Nigerian Economic Summit Group zudem um 26,7 Prozent ab.
Präsident Bola Tinubu rechtfertigt seine Reformen. Sie seien unausweichlich gewesen, um einen Staatsbankrott zu verhindern.
Ein Land gebaut auf Öl
Die zweite Reform mit weitreichenden Folgen war Tinubus Streichung staatlicher Subventionen für den Ankauf raffinierter Rohöl-Produkte wie Benzin. Um die Tragweite dieser Entscheidung zu verstehen, lohnt es, einen Blick auf die Rolle der Ölindustrie in Nigeria zu werfen.
Dank beträchtlicher Vorkommen ist das Land schon lange einer der weltweit größten Rohöl-Exporteure. 2022 machte der Export von Öl mehr als 73 Prozent der gesamtstaatlichen Exporteinnahmen aus. Trotz der üppigen Bodenschatzvorräte mangelt es Nigeria aber an Benzin. Die vier staatlichen Raffinerien produzieren durch jahrelange Misswirtschaft und Korruption zu wenig für den großen Bedarf im Binnenmarkt.
"Da wir große Probleme mit Elektrizität haben, versorgen die Menschen ihr zu Hause und ihre Geschäfte mit Energie aus Generatoren. Die werden mit Benzin betrieben", erklärt Journalist Olawoyin. Um dem Volk den Ankauf des lebensnotwendigen Kraftstoffs zu ermöglichen, sorgte die Regierung jahrelang mit Subventionen für einen stabilen Preis von importiertem Benzin.
Allein zwischen 2019 und 2022 sollen laut Weltbank umgerechnet 22,2 Milliarden US-Dollar dafür verwendet worden sein - ein entscheidender Faktor bei der Staatsverschuldung.
Mit dem Stopp der Subventionen konnte Tinubu zwar klaffende Löcher in seinem Haushalt füllen, seine Landsleute leiden jedoch unter den teils mehr als verdreifachten Benzinpreisen. Diese hatten laut Olawoyin nämlich unmittelbare Auswirkungen auf die Preise von Waren und Serviceleistungen.
Kreativ in der Krise
Die Krise werde aktuell noch zusätzlich durch die desaströse Sicherheitslage im Land verstärkt, sagt Stiftungsmitarbeiterin Peran. "In allen Landesteilen gibt es Sicherheitsprobleme, von Terrorismus über professionelle Entführungsbanden und brutal geführten Landnutzungskonflikten hin zu Erdölpiraterie und Abspaltungskämpfen."
Die Menschen in Nigeria finden jedoch Wege, den Widrigkeiten zu trotzen. "Wir sind sehr resilient und kreativ, wenn es darauf ankommt, Krisen zu bewältigen", sagt Olawoyin. Essen werde rationiert, einige würden auf alternative Medizin setzen. Dazu erzeugten viele Nigerianer mittlerweile ihren eigenen Strom und beschafften sich eigenes Wasser, ergänzt Peran. "Außerdem verteidigen sie sich selbst gegen Angriffe von außen und lösen Entführungssituationen oft innerhalb ihrer Gemeinschaften, wenn staatliche Sicherheitsorgane versagen."
Produktive Perspektiven
Hoffnung für die Zukunft kann dem krisengebeutelten Land seine kommerzielle Kreativ- und Kulturszene machen. "Nollywood, das nigerianische Kino, hat sich als wirtschaftliches Kraftwerk etabliert und ist international beliebt. Ebenso die Afrobeats, die nigerianische Musiker weltweit berühmt gemacht haben", sagt Peran. Beide Bereiche seien millionenschwer und würden zu den Hoffnungsträgern der nigerianischen Wirtschaft zählen.
Um der Abhängigkeit von Kraftstoffimporten zu entkommen, könnte die Dangote-Raffinerie eine wichtige Rolle spielen: Sie wurde vom reichsten Mann Afrikas, dem Nigerianer Aliko Dangote, gebaut und soll bei vollem Betrieb 650.000 Barrel Öl verarbeiten können - laut Dangote genug, um den gesamten afrikanischen Kontinent zu versorgen.
Die Dangote-Raffinerie ist bei Vollbetrieb die größte einsträngige Raffinerie der Welt. Ihr Bau kostete mehr als 25 Milliarden US-Dollar.
"Wenn die Benzinpreise durch lokale Produktion wieder sinken, wäre das eine große Erleichterung für Nigeria", sagt Journalist Olawoyin. Bisher kann die Raffinerie jedoch nicht auf voller Kapazität laufen. Das eigentlich massig vorhandene Rohöl fehlt.
Experten vermuten, dass Händler lieber ins Ausland exportieren, um statt des volatilen Nairas eine stabile Währung für ihr Rohöl zu erhalten. Außerdem werde viel auf dem Schwarzmarkt gehandelt.
Langfristige Stabilität durch kurzfristiges Leid?
Bola Tinubu trat im Wahlkampf mit dem Motto "Emi lo kan", was auf Yoruba, einer Landessprache Nigerias, etwa so viel bedeutet wie "Ich bin dran". Wie lange er aber seinen aktuellen Kurs vor der Bevölkerung noch rechtfertigen kann, ist fraglich.
"Einige wollen ihm eine, wenn nicht gar zwei Amtszeiten zugestehen. Sie wissen, dass es selbst mit der besten Politik lange brauchen wird, Nigeria wieder auf die Beine zu bringen", sagt Peran. Die Mehrheit sei jedoch wütend und enttäuscht, meint Olawoyin. "Die Menschen kämpfen buchstäblich ums Überleben."