Migranten aus dem Senegal "Nichts funktioniert in diesem Land"
Die Zahl der Menschen aus Westafrika, die nach Europa aufbrechen, ist deutlich gestiegen. Sie wollen nicht nur der Armut entfliehen, sondern auch dem Gefühl der Perspektivlosigkeit.
Der 24-jährige Cheikh Ndao will nur noch weg. Obwohl der junge Mechaniker Arbeit hat, hält ihn im Senegal nichts mehr: "Ich habe meinen Beruf, ich arbeite jeden Tag, aber nichts funktioniert", sagt er. "Nichts funktioniert in diesem Land." Sein erklärtes Ziel heißt Europa. Und er weiß auch schon, wie er dort hingelangt: mit dem Boot. Einen anderen Ausweg gibt es aus Sicht des jungen Senegalesen nicht: "Die einzige Möglichkeit ist, illegal dorthin zu gehen. Weil ich mir den legalen Weg, das Flugzeug, nicht leisten kann."
Damit ist der junge Mann ein für seine Generation recht typischer Fall. So sieht es jedenfalls der Migrationsforscher Professor Aly Tandian von der Universität Gaston Berger in Saint Louis im Norden Senegals. Es sei nämlich, sagt Tandian, naiv zu glauben, dass die meisten Menschen ihr Land auf der Suche nach Arbeit verlassen.
Armut ist längst nicht der einzige Grund
Die Sache sei deutlich komplizierter, die Gründe vielschichtiger: "Die Forschung zeigt uns, dass diejenigen, die auswandern, nicht so arm sind, wie man denkt", erklärt Tandian. "Es sind Menschen, die arbeiten. Aber die für andere arbeiten, sodass die Gewinne nicht ihnen gehören. Oder es sind Menschen, die gezwungen sind, mehrere Tätigkeiten auszuüben."
Von den sogenannten "working poor", also den "armen Arbeitenden", spricht Tandian. In der Tat zeigen Statistiken, dass in Afrika die Ärmsten der Armen weder die Kraft noch die Mittel haben, eine lange, oft lebensgefährliche Reise anzutreten - geschweige denn Schlepper zu bezahlen.
Dass sich also vor allem Menschen auf den Weg machen, die zumindest über begrenzte Mittel verfügen. Die Daten zeigen auch, dass die Zahl der Migranten, die innerhalb Afrikas ihre Heimat verlassen, um ein Vielfaches höher ist als die Zahl derer, die in den oft winzigen Holzfischerbooten Europa ansteuern.
Die Zahl der Migranten steigt rapide
Trotzdem kamen über die sogenannte Nordatlantikroute in den ersten drei Monaten dieses Jahres mit 13.000 Menschen gleich fünf Mal so viele Menschen auf den Kanarischen Inseln an wie im Jahr davor. Viele davon aus dem Senegal.
Die meisten seien von der Verzweiflung getrieben - oder mit dem Traum einer besseren Zukunft im Kopf, sagt Migrationsexperte Tandian: "Mit all den Fantasien, der Heroisierung der Migration und der Verherrlichung des Reisens für Migranten glauben die Leute, dass es möglich ist, sich selbst zu verwirklichen, wenn man einmal weg ist."
Wenn Tandian von "Fantasien" und "Verherrlichung" spricht, dann weist er damit auf ein Phänomen in den sozialen Medien hin, das gerade den Europäern seit Jahren Kopfzerbrechen bereitet: In TikTok-Fotos und Videos filmten sich immer wieder junge Migranten oder auch nordafrikanische Influencerinnen, lächelnd und perfekt geschminkt, bei ihren riskanten Überfahrten in kleinen Booten übers Mittelmeer.
Sie posierten entspannt für ihre Smartphone-Kameras und taten dabei so, als handle es sich um eine harmlose Vergnügungsfahrt, hinter deren Horizont eine glorreiche Zukunft warte. Und nicht um eine Reise, bei der jährlich Tausende ums Leben kommen.
Viele der schon vor Jahren aufgetauchten Filme sind mittlerweile gelöscht. Aber gelöst ist das Problem dadurch nicht. Und auch in Westafrika dürften diese oft hunderttausendfach geteilten Posts noch so manchem Jugendlichen im Kopf herumspuken.
Ändert die neue Regierung etwas?
Was die Jugend im Senegal angeht, so haben Anfang April deren Hoffnungsträger die Regierungsgeschäfte übernommen: "Ich sage der Jugend oft: Die Lösung liegt nicht darin, Boote zu besteigen." Mit diesen Worten wandte sich schon im Jahr 2019 der Politiker Ousmane Sonko an seine jungen Landsleute. Sonko wird gerade unter jungen Senegalesen fast schon wie ein Messias verehrt - und ist seit wenigen Wochen Premierminister, nachdem sein Parteifreund Diyomaye Faye die Präsidentschaftswahl haushoch gewonnen hatte.
Sie haben nun die Chance, etwas zu verändern. Ihre selbstgesteckten Hauptaufgaben lauten: Arbeitsplätze schaffen; das Los der Landbevölkerung und der Fischer zu verbessern; die Inflation einzudämmen.
"Migration steht noch nicht auf der Agenda unserer Politiker", kritisiert hingegen Analyst Tandian. Die frisch gewählte, gerade von vielen Jugendlichen vorab so gefeierte, neue Regierung im Senegal hat nun die Möglichkeit, das zu ändern. Ob sie das tut, ist die große Frage.
Der 24-jährige Cheikh Ndao will die Antwort nicht abwarten. Er ist bereit, die Lebensgefahr in Kauf zu nehmen und den Senegal im Boot Richtung Europa zu verlassen.