Mangelnde Perspektive Tunesiens Jugend will nur weg
Die tunesische Küstenstadt Sfax gilt als Aufbruchsort vieler Migranten aus Afrika nach Europa. Auch junge Tunesier haben von dort aus Reißaus genommen, um vor der Perspektivlosigkeit im Land zu fliehen.
Wer mit Omar Ben Amor durch die Altstadt der Stadt Sfax streift, fragt sich schnell: Wo sind die jungen Menschen geblieben? In der wuseligen Medina wird sichtbar, was Ben Amor als Exodus beschreibt.
Ben Amor ist Aktivist und kümmert sich um Migranten. Nicht nur um solche, die aus anderen afrikanischen Staaten auf der Durchreise nach Europa nach Tunesien kommen, sondern auch um seine Landsleute.
"Die Migration siehst du in den Vierteln, den Cafés, in den Häusern", erzählt er. "Sie ist jeden Tag präsent, es wird strukturell krasser und krasser, sodass es unseren Alltag beeinflusst. Wir verlieren die, die uns nahestehen, unsere Schulkameraden, einen Teil des Viertels hier - wir verlieren unsere Jugend."
Sichergestellte Flüchtlingsboote liegen im Hafen von Sfax. Die italienische Insel Lampedusa ist nur knapp 200 Kilometer entfernt.
Said findet keine Antwort auf Probleme
Tunesiens zweitgrößte Stadt Sfax liegt keine 200 Kilometer von der italienischen Insel Lampedusa entfernt und ist bekannt für junge Tunesier und Tunesierinnen, die illegal migrieren. Junge Menschen finde man in der Medina kaum noch, erklärt Ben Amor. Viele hätten Reißaus genommen, rauf auf eines der vielen Fischerboote, die täglich rausfahren. Sie vom Bleiben überzeugen will Ben Amor nicht, sagt er. Wie auch?
"Es gibt hier nichts für sie", sagt Ben Amor. "Nicht in ihrem Land, in ihrem Viertel, sogar nicht mal bei sich daheim. Sie finden sich hier nicht wieder, niemanden, der sie repräsentiert. Sie haben keine Zukunft und vergleichen sich mit anderen ihres Alters weltweit - und kommen zu dem Schluss, dass sie dann lieber Bürger der Welt werden."
Und das heißt: raus aus Tunesien. Das größte Problem für viele junge Leute: keine wirtschaftliche Perspektive. Viele sind arbeitslos - ob gut ausgebildet, schlecht oder gar nicht. Dazu kommen die steigenden Preise im Land, die Wirtschaftskrise, die politische Krise. Auf all das hat auch Präsident Kais Said, der seit eineinhalb Jahren ohne Parlament und Regierung nur noch per Dekret regiert, keine Antworten gefunden.
"Man kann hier nicht mehr leben"
In den Gassen der Medina kommt er ins Gespräch mit drei jungen Tunesiern. Einer von ihnen raucht, es riecht nach Cannabis. "Man kann hier ja nicht mehr leben", erklärt er schulterzuckend. "Alles ist teuer, man kann nicht wie die anderen ein ordentliches Leben führen, selbst Klamotten kann man sich nicht mehr leisten."
Auch er wolle übers Meer, sagt er, habe es auch schon mehrfach versucht. "Wir sind rüber, sie haben uns zurückgebracht, wir sind wieder rüber, wieder zurück. Natürlich werde ich es nochmal versuchen."
"Migration essentieller Teil des Landes"
Ben Amor versucht, Freunde zu motivieren, ein Interview zu geben. Welche zu finden, die nach Europa wollen oder es schon einmal versucht haben, ist nicht schwer. Vor dem Mikrofon reden wollen viele lieber nicht. Nochmal über die eigene Misere reden? Nicht schon wieder.
Später erhält Omar dann doch eine Sprachnachricht von einer Bekannten. Wenn Tunesierinnen und Tunesier davon sprechen, wegzugehen, nennen sie das 'Harga', was auf Arabisch so viel heißt wie "Verbrennung" - als Anspielung auf diejenigen, die sozusagen ihre Papiere verbrennen und vor ihrer Perspektivlosigkeit aus dem Land fliehen.
"Die Harga - die Migration - ist ein essentieller Teil unseres Landes", erklärt die Frau. "Das ist nicht neu, die Leute wissen, worauf sie sich einlassen. Ich will es auch, habe es schon versucht und werde es wieder tun." In Tunesien gebe es keinen Grund zu bleiben. "Keine Zukunft, kein Geld, keine Arbeit, kein Niveau. Nur Krankheit, Armut, keine Bildung, Müll."
Massives Müllproblem als Symbol für Staatsversagen
Tatsächlich hat Sfax seit Jahren auch noch ein massives und riechbares Müllproblem. Der Grund: eine ausgelagerte Müllkippe, die nicht nur für einen enormen Gestank gesorgt hat, sondern laut Anwohnern auch zu immer mehr Allergien, Atemwegserkrankungen, Fehlgeburten und Krebsfällen führt. Dazu gab es schon mehrfach Proteste, sogar mit einem Toten - der Präsident musste eingreifen. Jetzt gibt es gar keine Müllkippe mehr - das Problem stinkt weiter bis zum Himmel.
Was in Sfax passiert, stehe symbolisch für das systematische Staatsversagen, sagen Menschen vor Ort. Bis jetzt konnte der Staat weder dieses Müllproblem lösen, noch den Drang der Jugendlichen auswandern. Bloß weg aus Sfax.